Montag, 9. Oktober 2023

Das Morgenlaufprojekt/Laufen als Kultur/Der Vater

 


                         Photo Wien/Fotografin Margot Blanc


Mein Vater hatte Benzin im Blut und liebte bis zu seinem Lebensende das Herumkutschieren durch die Welt mit seinem Auto. Ich weiß, dass er Gesamtdeutschland wie seine Westentasche kannte, und auch dies kein Spruch war, denn er trug Westen!

Trotzdem lief er für sein Leben gerne. Wandern mit der Familie war ihm ein Vergnügen. Er verbrachte viel Zeit damit, Touren zu planen.

Berlin war ummauert. Er stand mit mir auf den Schultern am Brandenburger Tor, als die Mauer gebaut und das Tor für den Durchgang geschlossen wurde. Auf der anderen Seite stand sein Vater, mein Opa, der mich nun nicht mehr in Empfang nehmen konnte. Ich ahnte mit meinen fünf Jahren, dass hier etwas Unerhörtes unseren Lebensraum zerstörte. Meine Eltern und ich waren die einzigen aus zwei großen Familien in Westberlin. Lange Spaziergänge, weite Wanderungen mit der großen Familie, die Familie überhaupt, meine Großeltern, wir alle wanderten durch die Welt und diese Welt wurde durchgeschnitten mit Steinen.

Ich hatte in all den Jahren des ummauerten Berlins nie das Gefühl eingesperrt zu sein, mit solch einem Organisationsgeist organisierte mein Vater Läufe und Ausflüge. Es gab keine Route, die ich nicht geliebt hatte. Ich kannte mich jedenfalls in Berlin aus und wenn in der Schule ein Klassenausflug geplant wurde, war meine Expertise durch Erfahrung bei meiner Klassenlehrerin gefragt.

Es gab große Wanderungen mit Dampferfahrt, es gab welche mit Wildtierbeobachtungen, es wurden Pilze gesucht und im Herbst in Lübars Erntedankfesteinkäufe bei Bauern getätigt. Wir bestimmten Pflanzen und Vögel. Wir sammelten Kastanien und Eicheln, schnitten Hagebuttensträuße und Getreide. Es durfte nichts gerissen oder geknickt werden. Wir Kinder besaßen Taschenmesser, kleine Kosmosnaturführer, analoge Kameras und zusammen hatten wir ein Fernglas. Das besitze jetzt ich.

Es gab Felder, Wälder, Seen, Flüsse. Alles in Westberlin.

Eine kleine Welt mit einer großen inneren Weite in uns.

Es ist heute noch so, dass diese Art, mir die Welt zugänglich zu machen meine Art ist, sie mir bekannt zu machen. Als das ehemalige Ostberlin zu meinem Erfahrungshorizont hinzukam, begann ich mir diese vollkommen fremde Welt zu erlaufen. Ich überquerte die Spree auf mir fremden Brücken, erstaunte über fremde Ufer, tanzte in unbekannten Sälen und war zu Fuß in meiner Heimatstadt nicht weniger fremd als in New York. Ich weiß, aufs Laufen kann ich mich verlassen, da werde ich immer Heimat finden. Übrigens ist New York die Laufstadt für mich schlechthin. Parks, Brücken, grade durchquerende Straßen zum Durchschreiten, Museen, Galerien, Märkte, Cafés, Diner…und immer wieder der Hudson und das weite Meer. Berlin ist New York, aber mit viel mehr Grün und weniger Dramatik.

Ich bin eine Stadtläuferin. In der Wildnis oder Einsamkeit bin ich nur zu zweien gut.

Ich werde nie vergessen, wie ich auf Korsika auf einer Bergwanderung mit meiner Lebensgefährtin plötzlich auf einer Anhöhe Angst bekam und zu weinen begann. Wir waren vom Weg abgekommen, eine Spezialität meiner Liebsten, und nirgends mehr gab es ein Hinweisschild. Barbara fragte mich, was ich denn hätte und meine klare Antwort war: Hier steht nirgends ein Hinweisschild Adenauerplatz oder Kudamm, das halte ich nicht aus. Wir lachten, aber etwas daran machte mir die Stadtgöre in mir verständlich. Meine Freundin beschrieb mir dann die Möglichkeiten der Orientierung und schenkte mir einen Kompass. Ganz ehrlich? Mir ist immer noch ein Rätsel, wie sie sich damals und überall zurechtfand. Aber wir landeten in einer wunderbaren kleinen Bar am Meer und das Essen war umwerfend, ich aß erstmals in meinem Leben Meer Wolf in Safran und Knoblauchbutter und war verfallen. Essen hilft auch IMMER, jedenfalls bei mir.

Also wie beschrieben, alleine kann ich reisen und wandern, Kompass habe ich, aber die Zivilisation komplett verlassen werde ich alleine möglichst nicht. Allerdings liebe ich es, alleine in der Einsamkeit Schwedens oder Norwegens zu wohnen. Aber als allererstes finde ich heraus, wie ich zu Fuß zur nächsten Stelle mit Menschen komme und was es im Einkaufsladen für Lebensmittel gibt.Und ich schaue, welche Tiere ihre Spuren oder Töne hinterlassen und was für Pflanzen mich umgeben. Ob es auf den höchsten Tannenwipfeln einen Uhu gibt? Alles schon gewesen in der Einsamkeit.

Übrigens, grade im Radio/Deutschlandfunk Kultur gehört: In der Gendermedizin ist es erwiesen, dass Frauen unter anderem ein erhöhtes Herzinfarktrisiko in und nach der Menopause in sich tragen, wenn sie sich zu wenig bewegen. Was ich nicht wußte ist, dass Frauen alleine durch die Gebärfähigkeit und die damit zusammenhängenden Hormonstände über einen Großteil ihre Lebens dadurch gesundheitlich geschützt sind in Sachen Gesundheit des Herzens. Klasse.

3 Kommentare:

  1. Was für eine Fülle an wunderschönen Erinnerungen, liebe Ute!!! So wunderbar, was bei dir alles in der Kindheit gepflanzt wurde und jetzt immer noch Früchte trägt. Wie ein Baum mit den verschiedensten Früchten. Zwetschgen, Bananen, Zitronen, allen erdenklichen Beeren und natürlich Äpfeln 🥰 Und gleich daneben der Gemüsebaum mit den schönsten Gemüsesorten aus aller Welt 😉

    Vielen Dank für diese Geschichte aus deinem Leben. Ist wieder sooo schön. Und.....ich kann mir alles so toll vorstellen. Obwohl ich noch nie in Berlin gewesen war. Geschweige denn in New York 😎

    Liebe Grüße 😘

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  2. Liebe Hanne,irgendwann Berlin,irgendwann Cadolzburg, irgendwann die ganze Welt oder? !!!! Wenn alles läuft wie geplant, bin ich vielleicht im November oder Dezember in Nürnberg. Könnten wir uns da sehen?
    Also bis dahin weiter schöne Geschichten und eine Wanderung nach der anderen. Danke fürs Vorbeischauen und schöne Kommentieren. Liebe Grüße Ute

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    1. NATÜRLICH KÖNNTEN WIR UNS DA SEHEN!!!!! UNBEDINGT MÜSSEN WIR UNS DA SEHEN 🥰 Das wäre so schön! Ich drück' uns die Daumen, daß es klappt!!!

      Ich freu' mich jetzt schon mal 😎 Liebe Grüße und ein schönes Wochenende 🍁😘

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