Donnerstag, 5. Oktober 2023

Das Morgenlaufprojekt/Laufen als Kultur/Die Mutter

 


 

Das Morgenlaufprojekt

Laufen als Kultur

Die Mutter

 

Meine Eltern hatten beide unterschiedliche Lebenslinien bei dem Thema Laufen. Von meiner Mutter habe ich das Gehen und den Reichtum der Bücher.

Meine Mutter kam aus sehr armen und schlichten Verhältnissen. Ihr leiblicher Vater war Bierkutscher und ihr Großvater führte einen Kohlenhandel. Bei letzterem verbrachte sie einen Teil ihrer frühen Kindheit.

Er zog mit einem Handkarren durch die Straßen und verkaufte Briketts, Kohlen, Brennholz vom Wagen. Ein Auto hatte er nicht. Meine Mutter war zwischen 4 und 5 Jahre alt und begleitete ihn. Sie schwang die Glocke und lief in die Höfe, um den Handel anzukündigen. Sie war also den ganzen Tag auf den Beinen. Manchmal dann, wenn ihr langweilig wurde, schickte der Großvater sie ums Karree. Sie sollte den ganzen Häuserblock umlaufen und sich eine Geschichte ausdenken. Zurück beim Großvater dann erzählte sie ihm diese und bekam einen Stork Karamell Bonbon oder einen Lutscher mit Himbeergeschmack. Das größte war, wenn sie die ganze Woche mit ihm mitgegangen war, dass sie eine kleine Karina Schokolade erhielt. Sie schaffte es nie, sich diese einzuteilen. Sie bekam sie, öffnete das Stanniolpapier und aß sie wie Stulle.

Als sie selber erwachsen war und uns Kinder hatte, wir waren drei, war sie viel Zeit mit uns alleine. Unser Vater war oft auf Konzertreisen. Dann packten wir den Kinderwagen voll mit einer Glasflasche Tee, Stullen in Brotdosen, aufgeschnittene Äpfel und dann gings ab durch die Mitte.

Von ihr habe ich auch die Grundweisheit: Immer eine Stulle im Leben dabeihaben und ein Stück Obst am Tag essen.

Eins von meinen beiden Geschwistern saß immer im Kinderwagen. Die beiden anderen hielten sich entweder am Gestänge des Wagens fest oder liefen frei rum. Je nach dem, welchen Ausflug wir machten, gelaufen wurde alles, meistens. Ganz selten, dass wir mit der Straßenbahn irgendwohin fuhren.

Also ein Zoobesuch sah so aus. Vom Schloss Charlottenburg liefen wir quer durch Charlottenburg übers Knie/Ernst Reuter Platz bis zum Zoo. Dort pausierten wir erstmal und stärkten uns mit dem Picknick. Dann gings stundenlang durch die Gehege und am Ende zum Megaspielplatz mit Riesenschaukeln Wippen und Karussells zum Selberdrehen. Zum Abschluss gabs für uns alle ein Eis.

Na und dann gings zu Fuß zurück Nachhause. Mein Bruder war ein fuß fauler Genosse, aber wir anderen fühlten uns frei und es gab doch immer so viel zu entdecken.

Meine Mutter hat nie einen Führerschein gemacht und ist auch nie Fahrrad gefahren. Zu Fuß unterwegs sein war eine gute Zeit zum Träumen und Reden und Entdecken. Manchmal auch zum Weglaufen vor den Sorgen, das erzählte sie mir später.

Ich selber bin auch lieber zu Fuß als mit dem Rad unterwegs. Auf dem Rad verpasse ich doch alles, da fliegen die Dinge nur so vorbei. Und von einem Punkt zum anderen gibt’s das Netz der Öffentlichen und von dort dann wieder zu Fuß.

Meine Mutter war immer gesund. Erst im hohen Alter überfiel sie ein ununterbrochenes Schwindelgefühl.

Meine Lebensqualität ist weg, sagte sie damals.

Sie schämte sich weder für Gehstock noch Rollator. Sie verzweifelte am Schwindel. Das Lesen und eine gute Tafel Schokolade retteten sie ein wenig. Aber es reichte ihr zum Leben nicht. Mit 91 Jahren beschloss sie gemeinsam mit ihrem Hausarzt, mit Sterbefasten den letzten Lebensweg bis zum Ende zu gehen. Ich finde, es passt zu ihr.

Das Laufen und die Liebe zu Büchern habe ich von meiner Mutter.

 

4 Kommentare:

  1. So ein schönes Foto von dir und deinen Eltern.Man sieht wie sehr
    sie sich über dich freuen.Die frühe Kindheit ist so prägend,das
    sieht man am Beispiel deiner Mutter,daß sie ihre Erinnerungen an
    dich weitergeben konnte.Du beschreibst es so schön,daß man
    richtig eintauchen kann in das Leben deiner Mutter.
    Vielen Dank Ute,daß du uns daran teilhaben läßt.
    Herzliche Grüße Hilde

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    1. Liebe Hilde,
      herzliche Grüße zurück und danke fürs Vorbeischauen und Kommentieren.

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  2. Was für eine bewegende Familiengeschichte, Ute! Und was du alles von damals weißt.....Wie schön, daß du das Laufen von deiner Mutter übernommen hast. Ich kann mir vorstellen, daß du dich so manches mal mit deiner Mama verbunden fühlst. Und erst recht bei einem schönen Buch und einer Stulle mit einem Stück Obst 🥰 Sie würde es freuen.....Vielen Dank für's Erzählen!!! ❤️

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    1. Liebe Hanne,
      Obst ist da nachdrückliche Überbleibsel mit der Ernährung. Egal wie schwer die Zeiten waren früher, aber einen Apfel gabs immer, also bin ich eine Apfelgöre geworden und warte jährlich auf die Starter Gravensteiner und die Herbstprinzen usw. Damals gabs nur eine Apfelsorte, so ein grüner fester und süsslicher Apfel. Liebe Grüße Ute

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