Sehr geehrte
Frau Braun,
Ostern ist heuer ein anderes Ostern als sonst; prekärer, bedürftiger,
kleiner. Von Auferstehung ist nicht so viel zu spüren. Das Ostern 2020
ist daher auch eine Einladung, sich die Gottesbegegnung einmal ganz
anders vorzustellen, nämlich so: "Ich will Euch trösten, wie einen
seine Mutter tröstet."
Dieser Satz über Gott stammt vom Propheten Jesaja. Er stellt uns Gott
nicht als König vor, nicht als Vater, nicht als Hirt, nicht als
Befehlshaber einer Schar von Engeln; sondern als Frau, als Mutter - als
Mutter, die tröstet. Es ist dies eine faszinierende Vorstellung: Die
Mutter hat uns geboren, sie hat uns erzogen, sie hat uns begleitet, sie
hat uns gehen und wiederkommen lassen. Nicht jeder hatte eine tröstende
Mutter. Meine Mutter war so eine tröstende Frau. Wer eine solche Mutter
hat oder hatte, der weiß, welch wunderbare Vorstellung es ist, sich Gott,
so es ihn gibt, so man daran glauben kann, als tröstende Mutter
vorzustellen.
Eine Gottheit, die Lateinvokabeln abfragt
Die Mutter hat mir das Einmaleins beigebracht, sie hat die Englisch- und
Lateinvokabeln abgefragt, sie hat mit mir und meinen Geschwistern
gebetet, sie hat geschimpft; sie saß am Bett, wenn wir krank waren, sie
hat uns die Tränen abgewischt. Und sie war dann auch wieder für uns da,
als wir älter wurden und sie schon alt war; sie ist und war da in den
Krisen unseres Lebens.
Eine schöne Vorstellung: ein Gott, eine Gottheit, die Lateinvokabeln
abfragt, die uns umarmt, die Tränen abwischt, die uns an ihr Herz drückt,
die Rat und Trost gibt. Eine schöne Vorstellung: ein Gott, eine Gottheit,
die es später auch erträgt, wenn man sie als etwas nervig empfindet, weil
man selbst ja hinaus in die Welt und ins Leben gegangen ist, die Mutter
aber einen an das alte Leben und seine Regeln erinnert und daher Fragen
stellt, die einem gerade nicht passen.
Langsam, ich will noch länger leben
In ihren letzten Lebensjahren fuhr ich am Sonntag oft mit meiner alten
Mutter spazieren durchs bayerische Oberland – und wenn ich ihr zu schnell
fuhr, sagte sie: "Langsam, ich will noch länger leben." Aber
dann, nach ihrem neunzigsten Geburtstag, wurde sie, wie man so sagt,
immer weniger. Es war wie bei der Abschiedssinfonie. Sie kennen diese
Sinfonie von Joseph Haydn, bei der die Musiker der Reihe nach ihre Noten
zuklappen und das Licht auslöschen und sich von der Bühne verabschieden.
So ähnlich war es mit den Lebensgeistern meiner Mutter. Sie war dement.
Für uns wie für Gott bedeutet älter werden, den Tod vor Augen zu haben.
Das ist das Besondere an der christlichen Religion; das machte sie in
ihren Anfängen zu einer Torheit für die hellenistisch-römische Welt: Das
Göttliche begibt sich in die Leidensgemeinschaft mit den Menschen. Eine
Mutter Gott hat unendlich viele Menschen ins Leben kommen, Kind sein, alt
werden, verlöschen und sterben gesehen. Sie nimmt unser Gesicht in ihre
Hände und sagt: Hab keine Angst. "Ich will euch trösten, wie einen
seine Mutter tröstet."
Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder
Manchmal heißt es, alte Menschen, vor allem demente, würden wieder wie
die Kinder. Ich mag Ihnen dazu noch eine zweite sehr persönliche
Geschichte erzählen. Es war in der Zeit, in der die Zahnärzte noch
Dentisten hießen und sich noch nicht jeder Deutsche die dritten Zähne
leisten konnte: Wenn meine vielen Tanten damals der Großmutter (sie hatte
fünfzehn Kinder!) ihre neugeborenen Enkelkinder präsentierten, dachte die
alte Frau anschließend über eine anthropobiologische Frage nach: wie es
denn komme, so sinnierte sie, dass man gemeinhin die kleinen Kinder ohne
Zähne als possierlich, die zahnlosen Alten aber als hässlich betrachte?
Die Zahnlosigkeit der Alten akzeptierte sie unter Bezugnahme auf das
Bibelwort "Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht ins
Himmelreich eingehen" als eschatologische Notwendigkeit. Und so war,
theologisch höchst fragwürdig, aber für meine Großmutter sehr befriedigend,
der körperliche Verfall erklärt und eingebettet in die Volksfrömmigkeit.
An den Schwellen des Lebens
Der Umgang mit der Demenz: Auch eine demente Mutter kann trösten; es kann
trösten, sie einfach zu sehen, ihre Stimme zu hören, einen herzhaften
Kuss von ihr zu bekommen, von ihrer entwaffnenden Emotionalität getroffen
zu werden, ihre Freude zu spüren, dass man da ist. All das kann trösten -
trotz und manchmal sogar wegen der Demenz.
Die Kunst besteht darin, demente Menschen, die in ihrer Bedürftigkeit mit
Kleinkindern vergleichbar sind, nicht wie Kleinkinder zu behandeln,
sondern sie weiter als Erwachsene ernst zu nehmen. Das wird nicht nur den
Alten gut tun, sondern auch den Kindern. Es wird die Kindheit der Kinder
verändern, wenn sie in einer solchen Gesellschaft aufwachsen. Ein
"mütterliches" Ostern kann ein anderes Bild vom Menschsein
entwickeln.
Ostern werden Nester aufgestellt. Ein Nest braucht nicht nur das junge
Leben, ein Nest braucht auch das alte Leben. Ostern verändert nicht nur
das Gottesbild, es verändert auch das Menschenbild. Das Menschsein wird
dann, das meine ich mit diesem anderen Bild vom Menschen und vom
Menschsein, nicht mehr am Lineal von Ökonomie und Leistungsfähigkeit
gemessen. Hilfebedürftigkeit ist dann keine Störung, die behoben werden
muss, sondern gehört zum Menschsein. Ein solcher Umgang mit den Zeiten an
den Schwellen des Lebens wäre eine Zeitenwende.
"Kinder sind unsere Zukunft" – das hört man in der Politik
jeden Tag. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Zur ganzen Wahrheit
gehört: Auch die Alten sind "unsere Zukunft", denn unsere
Zukunft ist das Alter. Die Alten sind unsere Zukunft; die Kinder sind
unsere Zukunft.
Das Grundgesetz als Heimat für Kinder
Deshalb erzähle ich noch von Hänschen. Es ist eine Geschichte, die ich
sehr gern mag, die ich Ihnen vor Jahren auch schon einmal erzählt
habe. Hänschen rief: "Sie haben vergessen, dass das Volk nicht
nur aus Erwachsenen, sondern auch aus Kindern besteht." Hänschen ist
nicht einfach irgendein Hänschen, er ist "König Hänschen der
Erste". Also sagt er zu seinen Ministern: "Es soll zwei
Parlamente geben, eines für die Erwachsenen, eines für die
Kinder."
Das sind Pläne, die in der Politik allenfalls für ein kurzes Schmunzeln
sorgen würden, bevor man sich wieder den Folgen des Shutdown zuwendet.
Die Geschichte vom König Hänschen stammt von Janusz Korczak, dem großen
polnischen Pädagogen und Schriftsteller. Er erzählt darin, wie Kinder
lernen, Streit auszutragen und Alternativen zur gewohnten Ordnung zu
finden. Das Buch ist schon alt, es ist 1928 auf Polnisch und auf Deutsch
1988 erschienen. Aber es ist unglaublich modern: Es lehrt die
"Pädagogik der Achtung". Nicht nur in seinen Kinderbüchern,
auch in seinen Waisenhäusern entwickelte Korczak ein System der Selbstverwaltung
der Kinder, er baute demokratische Strukturen dort auf.
Geht nicht, sagen Sie? Es ging. Warum und wie? Das ergibt sich schon aus
dem Titel seines pädagogischen Hauptwerks, es heißt: "Wie man ein
Kind lieben soll". Das könnte sich auch die deutsche Politik
überlegen. Die deutschen Politiker müssen sich nämlich fragen lassen:
Warum ist die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen so wenig
verankert hierzulande? Warum ist die Kinderrechtskonvention
gesetzgeberisch so wenig präsent? Warum muss nicht jedes neue Gesetz
daraufhin befragt werden, wie es sich auf Kinder auswirkt?
Die Antwort könnte lauten: Weil die Kinder im Grundgesetz nicht
vorkommen, jedenfalls nicht als Inhaber von Rechten. Das Grundgesetz
kennt keine Kinder, bis heute nicht. Das ist schade, das ist bedauerlich,
das ist merkwürdig. Das Grundgesetz schützt zwar mittlerweile
ausdrücklich auch die Tiere und die Umwelt, also auch die Osterhasen,
aber die Kinder nicht. Das muss sich ändern. Das Grundgesetz muss zu
einer Heimat für Kinder werden. Der dazu vom Bundesjustizministerium
vorgelegte Entwurf ist unzureichend.
Ver-rückt werden
Janusz Korczak, der Weise im Waisenhaus, hat 1942 seine Kinder, es waren
an die zweihundert, ins Vernichtungslager Treblinka begleitet. Er ist mit
den Kindern gestorben, ermordet von den Nazis. Korczak wollte die Kinder
nicht im Stich lassen. Lassen wir sie heute auch nicht im Stich. Mit dem
Kindergrundrecht kämen auch die großen Pädagogen, es kämen Janus Korczak,
Maria Montessori und Johann Heinrich Pestalozzi ins Grundgesetz.
Janusz Korczak hat uns den Respekt vor den Kindern gelehrt. Der Respekt
vor den Kindern und der Respekt vor den Alten gehören zusammen; er ist
das Band, welches das Leben umspannt. Zu diesem Respekt gehört es, dass
Alte auch in Ruhe ver-rückt werden dürfen. Es gibt einiges geradezurücken
in dieser Gesellschaft. Sich das bewusst zu machen – das ist Ostern.
Ich wünsche Ihnen frohe Ostertage, trotz alledem und alledem, trotz
Corona, trotz aller Unsicherheiten. Ich wünsche Ihnen, ich wünsche uns,
in den ruhigen Tagen Kraft zu schöpfen – es geht um die Kraft zur
guten Veränderung.
Herzlich
Ihr
Heribert Prantl
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