Donnerstag, 19. September 2024

WARTEN DIE ZWEITE




 

WARTEN

Ich stehe hier und warte

Wie eine siebzehnjährige auf ihre erste Liebe

Als 68Jährige stehe ich vor einem Ankunftsterminal

Am unerotischsten Flughafen der ganzen Welt

Der BER ist ein Totentanzgelände ohne jeden Charme

Da vergisst Du sogar das Beten

Und da stehe ich am Terminal 1 Steig 2

Und mein Kopf ist voller Anspannung

Ich warte seit zwei Stunden auf eine Freundin aus Pisa

Als ich vor zwei Stunden hier ankam war ich unter tausenden Fluggästen und Begleitungen eine kleine Sternschnuppe und verlief mich erstmal selbstverständlich

Ich hatte die Anzeigentafel fehlinterpretiert. Das war mein Glück. Denn ich gehörte zu dem ganz anderen Terminal, da war es bei aller beschissenen Anlage doch netter. Direkt gegenüber vom Ankunftsterminal lag ein Marche Restaurant. Die gibt es in Berlin nicht mehr. Das ist schade, ich liebte deren Dependancen sehr.

Dahin zog ich mich sofort zurück und bestellte mir eine wirklich große Schale Milchkaffe. Ich wollte in Café baden und schreiben und lesen und das wichtigste, komfortabel warten.

Und da wartete ich und erinnerte mich an mein wirklich allererstes Warten und Vermissen, eines, das einen durch ganze Fleisch schneidet und die Seele zerquetscht und den Kopf verrückt macht.

Damals war ich mit einer Schwestern Schülerin Freundin zusammen zu ihr Nachhause ins Bayerische gefahren. Wir fuhren mit der alten Reichsbahn mit Holzbänken. Wir reisten mit alten Leder- und Pappkoffern und einem Rucksack für die Stullen und den Kaffee. Wir wurden von meinen Eltern und meiner allerersten Geliebten und Sabines Freund verabschiedet. Sie zogen ein weißes Laken heraus und das war ihr Winken und wir standen an Fenstern, die noch zu öffnen gingen, von unter nach oben und weinten und lachten und vermissten alle schon bevor sie unseren Augen entschwunden waren. Wir waren 18 Jahre alt. Sabine hatte einen neuen Freund zurückgelassen, der stand auch mit meinen Eltern und weinte.

Da standen sie und liefen nebenher und waren so tolerant und divers, ohne dass diese Worte damals benutzt werden mussten. 1985 war eine lesbisch und wenn sie Glück hatte wie ich, lebte sie in Berlin und hatte Eltern, die das gar nicht in Frage stellten, denn sie waren auch durch alle homoerotischen Ebenen gelatscht.

Keine 48 Stunden später dann standen Geliebter und Geliebte als Überraschungspaket vor unserer Ferienwohnung und ich weiß nicht mehr, wie wir weiter verfuhren, ich glaube wir reisten zusammen mit dem dicken alten Benz von Sabines Freund nach Frankreich und machten dort mit unserem wenigen Geld die Küste um Arcachon unsicher, wir badeten zelteten malten küssten stöhnten und waren außer Rand und Band vor laute Leben und Lieben.

Und mit dieser Erinnerung stand ich am Terminal und wartetet auf meine noch spät gefundene Liebste.

Uns hatte das Vermissen beide ins Herz geschnitten. Aber wir waren erwachsen und eine Woche war kein Seelenbruch und wir trugen auch keinen Schaden davon sondern würde uns eher froh stimmen aufeinander.

Aber das wussten wir im Vorhinein beide nicht, unsere vernünftigen Lebenserfahrungen sollten uns ein bisschen Recht geben, aber vor allem sollten wir nacheinander aufeinander warten, du beim Anflug und Boarding und Aussteigen und endlich nach Kilometern durch einen Flughafen rennen aus der Tür heraustreten und mir in die Arme fallen.

Wir hatten es geschafft

Das Vermissen das Warten das Sehnen das Wiedersehen das Leben die Liebe

Ich hatte gewartete und mich ans erste Warten erinnert

Viel anders als damals hatte es sich nicht angefühlt. Jedenfalls nicht in der letzten halben Stunde. Und eigentlich auch schon seit dem Morgen. Aber wer will das schon wahrhaben.

Andere hatten auch gewartet. Ein alter türkischer Mann lief wie angestochen und unsicher hin und her vor dem Terminal und dann fragte er endlich und ab dann fragte er wirklich jeden und jede, die ihm in die Arme liefen. Als dann endlich wirklich geklärt war, dass er hier richtig stand und die Maschine grade im Anflug war, da lächelte er und sagte, na dann kann ich ja erstmal einen Teetrinken gehen. Ich dachte, bow, welche Arschruhe hat der denn. In dem Moment als mein Flug aus Pisa im Anflug war, hatte ich keine einzige ruhige Minute mehr.

Oder eine Frau von einem Reiseunternehmen lief mit ihrem Schild hin und her und konnte ihre Truppe nicht finden. Ich wusste ganz genau, das wäre kein Job für mich, never ever auf Menschen warten, die nicht kommen oder vielleicht kommen oder falsch angemeldet sind. Never ever so warten.

Ich glaube, ich habe falsch geatmet, oder bestimmt auch mal gar nicht. Ich habe nicht gebetet, nee doch, morgens schon, ja da hatte ich noch etwas Ruhe aber wirklich nur etwas.

Nee…warten ist mitnichten meine Kernkompetenz. Ganz bestimmt.

Vom Anflug bis zum Moment des Wiedersehens waren übrigens 45 Minuten vergangen, da hätte ich locker

Durchatmen und Tee trinken können. Aber ganz locker.

 



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