kopfüber in den Roman
Ich haben
gelesen/DIE GEWITTERSCHWIMMERIN
Der Titel
verführte mich zwei Tage vor Weihnachten zum Kauf. Ich war kurz vor einer
Verabredung nochmal in eine Buchhandlung geraten und hatte mich einfach treiben
lassen. Ein Buch für die Feiertage, das wär´s noch. Und dann lag sie da, DIE
GEWITTERSCHWIMMERIN.
Ich sah eine
mutige und tatkräftige Hauptfigur vor mir, Wasser ist mein Element und im
Gewitter zu schwimmen war mir nie in den Sinn gekommen. Ich nahm das Buch und
die Verkäuferin schwärmte von dem Buch, sie war noch beim Lesen, aber die
Hälfte hatte sie noch vor sich.
Das
Coverstützte meine Fantasie, eine nackte Frau sprang mit einem Köpper von einem
Bootssteg in einen Waldsee.
Das Buch ist
ein Schwergewicht, das Wort STARKER TOBAK stand für mich die ganze Zeit im
Raum.
Aber
irgendwie schafft es die Autorin einen schwungvollen Ton durch den gesamten
Text zu führen. Sie findet Worte für wirklich heftige Momente, die die Leserin
klar ins Thema hineinwerfen.
Der
Klappentext verriet nichts über das EIGENTLICHE THEMA, das sich schon bald,
besonders aber nach der Mitte hin entfaltete, nicht einmal in einer Andeutung.
Aber erstmal
der Reihe nach: Wirklich prima ist, dass die Autorin hinten im Buch ein
Familiengenogramm aufgezeichnet hat, so konnte ich mich immer wieder bei
Unsicherheiten zeitlich orientieren.
Es geht um eine
Familie, es geht um einen Zeitbogen von 1898 bis 2017, in dem vier Generationen
das Thema Trauma mit ihren Biografien.
durchdeklinieren
Die Autorin stellt in einem Vorwort klar, dass sie ihre Familiengeschichte
aufschreibt, und dass ihre Sichtweise nicht unbedingt mit der Sichtweise aller
übereinstimmt, aber dass die anderen es akzeptieren, wenn sie es in der Form
eines freien literarischen Romans veröffentlicht.
Der Roman
ist in seiner Zeitenfolge wie eine großartige Choreografie eines Tanzes
angelegt. Der Text funktionierte nicht chronologisch, also hat sie die
entgegengesetzten Zeiten aufeinander zu bewegt.
Die
Protagonistin Tamara, 2017 66 Jahre alt, ist die Gewitterschwimmerin.
Sie wird von
der Autorin bis in die Kindheit zurückbewegt und erzählt uns auf diese Weise
von den schweren sexuellen Traumatisierungen ihrer Schwester, ihrer Mutter,
ihrer Großmutter. Die Täter sind die Einsamkeit im Krieg, die Herabwürdigung
der Frauenrollen, die sexuellen Übergriffe der Frauen und der Männer auf die
jeweils jüngere Generation. Manchmal ist es nur eine Andeutung auch zwischen
den Menschen, aber immer bleiben es übergriffige sexuelle Momente, manchmal
kauf greifbar, meistens aber plump und perfide und widerlich, sehr normal.
Im Jahr 1960
treffen beide Zeitenströme aufeinander und da wird die sexuelle Gewalt aneinander
aus Sicht der Tochter, des Vaters und der Mutter geschildert. Stellenweise ist
es kaum auszuhalten.
Der Roman
beginnt mit dem Tod der Mutter der Protagonistin und endet 2017 mit einer
Begegnung mit einer entfernten Bekannten aus Kinderzeiten, die dann am Schluss
auch noch ihre Erinnerung an sexuelle Übergriffe dieser Familie ihr gegenüber
berichtet.
Das Perfide
sind die diversen Formen des Verrats der Frauen untereinander. Tamaras
Schwester wird psychisch krank, ertränkt und verdrängt ihre Traumatisierung mit
Alkohol und Tabletten und nimmt sich im Erwachsenenalter das Leben. Ihre
Schwester kann sie nicht retten.
Dies alles
findet in einer angesehenen Familie mit politisch hehren Zielen und
Verantwortlichkeiten in der DDR statt. Wissenschaftler, Autoren, politische
aktive Menschen. Um keinen Irrtum von meiner Seite aufkommen zu lassen, dies
alles hätte auch in der BRD stattfinden können.
Noch nie
habe ich bisher ein Buch gelesen, indem sexueller Missbrauch in allen Facetten
aufgefächert worden ist.
Mein
Leserinnenvorteil war es, dass ich den Rummel der Rezensionen nicht mitbekommen
habe. Dieses Buch war auch für den Deutschen Buchpreis nominiert und ich finde,
das Buch hätte den verdient.
Im
Nachhinein habe ich mal reingeschaut in alte Besprechungen und habe Interviews
mit der Autorin gelesen.
Franziska
Hauser ist Jahrgang 1975 und ich darf mit Recht annehmen, dass sie die
Henriette im Buch ist, eine der beiden Töchter von Tamara. Am Ende des Buches
legt sie ein Aufzeichnungsgerät zwischen sich und ihre Mutter und beginnt
dieses Buch zu schreiben. Auch sie hat eine Rechnung des Verrats mit ihrer
Mutter offen.
Franziska
Hauser erzählt in einem Interview, dass sie ein Buch über ihre und mit ihrer
Mutter geschrieben hat. Diese reale Mutter hat nach diesem Buch noch einmal
eine neue Beziehung begonnen und fühlt sich erstmals in ihrem Leben in einer
Beziehung glücklich.
Sexuelle
Gewalt ist ein Trauma, das sich in dieser Familie ebenso wie in allen Familien
so lange fortsetzt und weiter gereicht wird, bis jemand, eine ein STOP macht
und diese Linie durchbricht. Ein oft zitierter Satz, auch hier in diesem Roman
ist, WIE KONNTE ICH DIE WERDEN, DIE ICH NIE WERDEN WOLLTE. Genau diese Frage
stellt Henriette ihrer Mutter zum Beginn ihres Interviews am Ende dieses
Romans: WIE BIST DU DIE GEWORDEN, DIE DU NIE WERDEN WOLLTEST?
Vielleicht
ist DAS STOP DER SEXUELLEN GEWALT in dieser Familie in diesem Fall das Schreiben
dieses Romans.
Und nun, was
hat es mit DER GEWITTERSCHWIMMERIN auf sich?
Die
Protagonistin Tamara hofft immer wieder im Kampf mit der Natur, dass diese sie
überrollt und sie tötet, es ist eine aussichtslose suizidale Hoffnung, die aber
nie greift. Es ist ihre zeitweilige Hoffnungslosigkeit dem Leben gegenüber.
Sie ist
dennoch eine mutige Heldin, sie kämpft mit der Erinnerung ums Überleben, sie
weist ihre Familienmitglieder fest in die Grenzen und deckt alles Gewalttätige
in dieser Familie ihrer Enkelin gegenüber auf.
Das Buch ist
toll geschrieben, das Thema wunderbar, manchmal an der Grenze des Aushaltbaren,
erzählt.
Die Autorin selber
liest Texte zu sexueller Gewalt nicht gerne. Ihren eigenen Text konnte sie ohne
emotionale Einbrüche schreiben. (entnommen aus einem Interview)
Wer ist die
Autorin?
1975 in
Pankow Ostberlin geboren, Fotografin/an der Ostkreuzschule ausgebildet und
Autorin. Sie hatte schon ein Buch geschrieben, SOMMERDREIECK, das wurde sofort
mit zwei Preisen bedacht, Aspekte Literatur und den Debütanten preis der lit.COLOGNE.
Sie führt
ein Instagramaccount hauser.franziska
Und eine
website www. Foto-haus.info
Beides
wunderbare Präsentationen, so wie das Buch auch geschrieben ist.
Sie schreibt
über sich selber:
Kein Haus,
kein Boot, kein Auto, nur ein altes Fahrrad. Na da ist sie doch wieder die
Erzählerin des Romans.
Übrigens hat
sie ein neues Buch geschrieben, mit dem sie seit Januar auf Lesereise ist: DIE
GLASSCHWESTER, habe ich mir heute sofort bestellt und stelle es Euch dann auch
bald vor.
Was für ein Text wieder von Dir, liebe Ute! Einleitung, Hauptteil und Schluß perfekt :) Wenn ich es in einer meiner Büchereien bekomme, werde ich versuchen es zu lesen. Aaaaber versprechen kann ich noch nix. Denn ich bin ganz schlecht im AUSHALTEN von starkem Tobak....Die Titel von allen 3en finde ich aber klasse und sehr ansprechend! Werde dir berichten. Lieben Gruß und vielen Dank für Deinen post!!!
AntwortenLöschenLiebe Hanne, hätte ich von dem Tobak gewußt, hätte ich das Buch nicht gekauft. Aber es ist toll geschrieben. Und ich gehe NIE davon aus, dass Du die Bücher, die ich bespreche, lesen mußt, bitte denke das nicht. Mir reicht, dass Du meinen Stil gut findest und ich dafür eine 1 bekomme. Liebe Grüsse...was liest Du eigentlich?
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