Sonntag, 23. Februar 2020

Ich haben gelesen/DIE GEWITTERSCHWIMMERIN


kopfüber in den Roman

Ich haben gelesen/DIE GEWITTERSCHWIMMERIN

Der Titel verführte mich zwei Tage vor Weihnachten zum Kauf. Ich war kurz vor einer Verabredung nochmal in eine Buchhandlung geraten und hatte mich einfach treiben lassen. Ein Buch für die Feiertage, das wär´s noch. Und dann lag sie da, DIE GEWITTERSCHWIMMERIN.
Ich sah eine mutige und tatkräftige Hauptfigur vor mir, Wasser ist mein Element und im Gewitter zu schwimmen war mir nie in den Sinn gekommen. Ich nahm das Buch und die Verkäuferin schwärmte von dem Buch, sie war noch beim Lesen, aber die Hälfte hatte sie noch vor sich.
Das Coverstützte meine Fantasie, eine nackte Frau sprang mit einem Köpper von einem Bootssteg in einen Waldsee.
Das Buch ist ein Schwergewicht, das Wort STARKER TOBAK stand für mich die ganze Zeit im Raum.
Aber irgendwie schafft es die Autorin einen schwungvollen Ton durch den gesamten Text zu führen. Sie findet Worte für wirklich heftige Momente, die die Leserin klar ins Thema hineinwerfen.
Der Klappentext verriet nichts über das EIGENTLICHE THEMA, das sich schon bald, besonders aber nach der Mitte hin entfaltete, nicht einmal in einer Andeutung.
Aber erstmal der Reihe nach: Wirklich prima ist, dass die Autorin hinten im Buch ein Familiengenogramm aufgezeichnet hat, so konnte ich mich immer wieder bei Unsicherheiten zeitlich orientieren.
Es geht um eine Familie, es geht um einen Zeitbogen von 1898 bis 2017, in dem vier Generationen das Thema Trauma mit ihren Biografien.
durchdeklinieren Die Autorin stellt in einem Vorwort klar, dass sie ihre Familiengeschichte aufschreibt, und dass ihre Sichtweise nicht unbedingt mit der Sichtweise aller übereinstimmt, aber dass die anderen es akzeptieren, wenn sie es in der Form eines freien literarischen Romans veröffentlicht.
Der Roman ist in seiner Zeitenfolge wie eine großartige Choreografie eines Tanzes angelegt. Der Text funktionierte nicht chronologisch, also hat sie die entgegengesetzten Zeiten aufeinander zu bewegt.
Die Protagonistin Tamara, 2017 66 Jahre alt, ist die Gewitterschwimmerin.
Sie wird von der Autorin bis in die Kindheit zurückbewegt und erzählt uns auf diese Weise von den schweren sexuellen Traumatisierungen ihrer Schwester, ihrer Mutter, ihrer Großmutter. Die Täter sind die Einsamkeit im Krieg, die Herabwürdigung der Frauenrollen, die sexuellen Übergriffe der Frauen und der Männer auf die jeweils jüngere Generation. Manchmal ist es nur eine Andeutung auch zwischen den Menschen, aber immer bleiben es übergriffige sexuelle Momente, manchmal kauf greifbar, meistens aber plump und perfide und widerlich, sehr normal.
Im Jahr 1960 treffen beide Zeitenströme aufeinander und da wird die sexuelle Gewalt aneinander aus Sicht der Tochter, des Vaters und der Mutter geschildert. Stellenweise ist es kaum auszuhalten.
Der Roman beginnt mit dem Tod der Mutter der Protagonistin und endet 2017 mit einer Begegnung mit einer entfernten Bekannten aus Kinderzeiten, die dann am Schluss auch noch ihre Erinnerung an sexuelle Übergriffe dieser Familie ihr gegenüber berichtet.
Das Perfide sind die diversen Formen des Verrats der Frauen untereinander. Tamaras Schwester wird psychisch krank, ertränkt und verdrängt ihre Traumatisierung mit Alkohol und Tabletten und nimmt sich im Erwachsenenalter das Leben. Ihre Schwester kann sie nicht retten.
Dies alles findet in einer angesehenen Familie mit politisch hehren Zielen und Verantwortlichkeiten in der DDR statt. Wissenschaftler, Autoren, politische aktive Menschen. Um keinen Irrtum von meiner Seite aufkommen zu lassen, dies alles hätte auch in der BRD stattfinden können.
Noch nie habe ich bisher ein Buch gelesen, indem sexueller Missbrauch in allen Facetten aufgefächert worden ist.
Mein Leserinnenvorteil war es, dass ich den Rummel der Rezensionen nicht mitbekommen habe. Dieses Buch war auch für den Deutschen Buchpreis nominiert und ich finde, das Buch hätte den verdient.
Im Nachhinein habe ich mal reingeschaut in alte Besprechungen und habe Interviews mit der Autorin gelesen.
Franziska Hauser ist Jahrgang 1975 und ich darf mit Recht annehmen, dass sie die Henriette im Buch ist, eine der beiden Töchter von Tamara. Am Ende des Buches legt sie ein Aufzeichnungsgerät zwischen sich und ihre Mutter und beginnt dieses Buch zu schreiben. Auch sie hat eine Rechnung des Verrats mit ihrer Mutter offen.
Franziska Hauser erzählt in einem Interview, dass sie ein Buch über ihre und mit ihrer Mutter geschrieben hat. Diese reale Mutter hat nach diesem Buch noch einmal eine neue Beziehung begonnen und fühlt sich erstmals in ihrem Leben in einer Beziehung glücklich.

Sexuelle Gewalt ist ein Trauma, das sich in dieser Familie ebenso wie in allen Familien so lange fortsetzt und weiter gereicht wird, bis jemand, eine ein STOP macht und diese Linie durchbricht. Ein oft zitierter Satz, auch hier in diesem Roman ist, WIE KONNTE ICH DIE WERDEN, DIE ICH NIE WERDEN WOLLTE. Genau diese Frage stellt Henriette ihrer Mutter zum Beginn ihres Interviews am Ende dieses Romans: WIE BIST DU DIE GEWORDEN, DIE DU NIE WERDEN WOLLTEST?
Vielleicht ist DAS STOP DER SEXUELLEN GEWALT in dieser Familie in diesem Fall das Schreiben dieses Romans.
Und nun, was hat es mit DER GEWITTERSCHWIMMERIN auf sich?
Die Protagonistin Tamara hofft immer wieder im Kampf mit der Natur, dass diese sie überrollt und sie tötet, es ist eine aussichtslose suizidale Hoffnung, die aber nie greift. Es ist ihre zeitweilige Hoffnungslosigkeit dem Leben gegenüber.
Sie ist dennoch eine mutige Heldin, sie kämpft mit der Erinnerung ums Überleben, sie weist ihre Familienmitglieder fest in die Grenzen und deckt alles Gewalttätige in dieser Familie ihrer Enkelin gegenüber auf.
Das Buch ist toll geschrieben, das Thema wunderbar, manchmal an der Grenze des Aushaltbaren, erzählt.
Die Autorin selber liest Texte zu sexueller Gewalt nicht gerne. Ihren eigenen Text konnte sie ohne emotionale Einbrüche schreiben. (entnommen aus einem Interview)


Wer ist die Autorin?
1975 in Pankow Ostberlin geboren, Fotografin/an der Ostkreuzschule ausgebildet und Autorin. Sie hatte schon ein Buch geschrieben, SOMMERDREIECK, das wurde sofort mit zwei Preisen bedacht, Aspekte Literatur und den Debütanten preis der lit.COLOGNE.
Sie führt ein Instagramaccount  hauser.franziska
Und eine website  www. Foto-haus.info
Beides wunderbare Präsentationen, so wie das Buch auch geschrieben ist.
Sie schreibt über sich selber:
Kein Haus, kein Boot, kein Auto, nur ein altes Fahrrad. Na da ist sie doch wieder die Erzählerin des Romans.
Übrigens hat sie ein neues Buch geschrieben, mit dem sie seit Januar auf Lesereise ist: DIE GLASSCHWESTER, habe ich mir heute sofort bestellt und stelle es Euch dann auch bald vor.












2 Kommentare:

  1. Was für ein Text wieder von Dir, liebe Ute! Einleitung, Hauptteil und Schluß perfekt :) Wenn ich es in einer meiner Büchereien bekomme, werde ich versuchen es zu lesen. Aaaaber versprechen kann ich noch nix. Denn ich bin ganz schlecht im AUSHALTEN von starkem Tobak....Die Titel von allen 3en finde ich aber klasse und sehr ansprechend! Werde dir berichten. Lieben Gruß und vielen Dank für Deinen post!!!

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    1. Liebe Hanne, hätte ich von dem Tobak gewußt, hätte ich das Buch nicht gekauft. Aber es ist toll geschrieben. Und ich gehe NIE davon aus, dass Du die Bücher, die ich bespreche, lesen mußt, bitte denke das nicht. Mir reicht, dass Du meinen Stil gut findest und ich dafür eine 1 bekomme. Liebe Grüsse...was liest Du eigentlich?

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