Sonntag, 1. März 2015

U Bahn Stories Vollkommener Irr Sinn




U Bahn Stories
Vollkommener Irr Sinn

Nach einer guten Stunde  Spaziergang durch den Friedrichshain erreiche ich die U- Bahnstation und betrete einen leeren Waggon. Ich sitze so gerne in den kleinen Abschnitten, wo sich jeweils drei Personen gegenüber sitzen können. Die zwei Plätze an dem Gestänge zum Ausgang sind meist als Behindertensitzplätze ausgewiesen. Ich setze mich wie meist an den anderen Rand. Ich kann die ein- uns aussteigenden Fahrgäste beobachten. Bis der Zug abfährt, treten nur drei Männer und zwei Frauen ein. Eine setzt sich mir gegenüber, ein junger Mann platziert sich auf einen der Behindertensitze.
Ich lese im Tagesspiegel und bin fast abgetaucht in einem Artikel über Schizophrenie und Kunst.
An der ersten Station steigt eine Frau zu, deren Erscheinungsbild etwas irritiert. Ihre Zähne stehen sehr schief. Die fettigen Haare fallen ihr in die Stirn. Ihre Augen sind kaum zu sehen. Sie schaut niemanden an.
„Ich will mich hier hin setzen.“
Sie zeigt auf mich.
Ich fühle mich überrumpelt und reagiere gar nicht.
„Ich will hier sitzen!“ schreit sie mich an.
Ich denke noch, naja, dann rutsche ich eben zur Seite, da poltert sie mich lauthals an.
„Ich bin behindert!“
Hm, denke ich, stimmt, aber der Sitz ist dann falsch. Und das sage ich ihr auch. Ich weise auf den Platz links von mir, zeige auf das Schild und erkläre freundlich aber bestimmt, dass dieser Platz für sie frei sei.
Sie bleibt beharrlich stehen, hantiert etwas ungeschickt an ihrer Jackentasche, zieht letztlich ihr Portemonnaie heraus und greift zielsicher eine Plastikkarte heraus und beweist mir ihren Behindertenstatus.
Ich denke, scheiss drauf, lass ihr ihren Willen und setze mich widerrechtlich auf den Behindertenplatz und hege die Hoffnung, dass sie zur Ruhe kommt.
Weit gefehlt. Sie zieht ein meganeues oberaffengeiles iPhone raus, macht mit ihren Fingern zielsicher zwei drei switschende Bewegungen und lässt türkische Musik laut ablaufen. Gleichzeitig riecht sie sehr scharf nach Urin.
Mittlerweile bin ich interessiert an ihr. Ein Teil Ihrer Präsens gefällt mir, auch wenn sie mich damit aus meinem Lese- und Lebenstakt gebracht hat. Ich mag Frauen, die DA SIND, sich nicht verstecken. Laute Frauen. Frauen, die ihre Beine nebeneinander stellen und wenn sie neben mir oder anderen sitzen  auch nach außen fallen lassen. Der Geruch ist unangenehm.
Die Musik ist klasse. Die anderen Passagiere sind empört und schauen sie an, aber niemand sagt etwas.
In diesem Moment klingelt ihr Telefon. SEHR LAUT. ARABISCHER KLINGELTON.
Ich denke, das wird hier ja immer schärfer mit der Braut.
Mittlerweile bin ich wieder einmal davon überzeugt das in Berlin U- Bahn zu fahren vollkommen irre ist und sollte mir je der Stoff zum Erzählen ausgehen, ich einfach nur U Bahn hin und herfahren muss, den Rest meines Lebens.
Sie geht ran und schreit laut los.
Türkischdeutsch,  scharf und abgehackt wie beim Militär:
“ Ja ich fahre wie immer um diese Zeit UBAHN!“
Dann wieder Türkisch und Deutsch im Wechsel. Sie spuckt kleine Fäden aus dem Mund und sie anzusehen ist etwas ekelig. Einzig ihre sehr akzentuierte durchbrechende deutsche Sprechweise nimmt mich gefangen. Einwandfrei in Ausdruck und Grammatik. Auch das ist irre gut.
Sie legt auf, die Musik läuft weiter, sie gibt mit der Lautstärke Gas und mittlerweile sehe ich sie ungehindert grinsend an.
„Meine Mutter, vollkommen bekloppt. Jeden Tag ruft sie mich an und fragt, ob ich in der U- Bahn sitze und jeden Tag muss ich darauf Antwort geben, als wäre ich bekloppt!“ empört sie sich.
Ich verstehe beide, die Sorge der Mutter und den Zorn der Tochter.
„Vielleicht sorgt sie sich immer um die behinderte Tochter,“ versuche ich einzulenken.
„Ich bin behindert, nicht bekloppt!“
„Aber sie verhalten sich auffällig und es könnte auch passieren, dass da etwas schief gehen kann.“
„Glauben sie wirklich, dass mit mir in der U- Bahn irgendetwas schief gehen kann?“
Breitbeinig springt sie auf und stellt sich in die Gangmitte.
Ich beginne zu lachen.
„NÖ“ und lache beherzt weiter.
Jetzt kann sie sich auch nicht mehr halten und lacht.
„Sie haben das schärfste Handy der Welt, oder?!“
Es ist das neueste i Phon und ich habe es noch nicht in Wirklichkeit  gesehen. Der Sound ist super.
„Das ist doch noch ganz neu und unheimlich teuer.“
Sie zeigt es stolz her, hält es aber gewissenhaft fest umschlossen. Ich könnte es ihr nicht entreißen. Sie kennt die Pappenheimer, die sowas tun, das merke ich.
„Das hat mein Vater bezahlt.“ Sie schaut mich herausfordernd an.
„Das ist ja großzügig.“
„Nein, dazu ist er verpflichtet. Er ist dafür verantwortlich, dass ich behindert bin und wenn ich an dieser Schraube drehe, bekomme ich alles.“ Sie wirkt nicht bauernschlau sondern kalkuliert haarscharf mit Reaktionen, denke ich. Vermute aber gleichzeitig, dass ich damit vollkommen schief liegen kann. Vielleicht hat sie ihre Impulse gar nicht unter Kontrolle und wirkt deshalb raffiniert und zugleich auch abstoßend. Ich schwanke zwischen Lachen und Abscheu.
„Wieso ist er dafür verantwortlich? Was hat er getan?“
„Besser ist die Frage, was hat er unterlassen? Er hat mich bei hohem Fieber nicht ins Krankenhaus gebracht, weil ich doch nur ein Mädchen bin. Dabei hatte ich eine Gehirnhautentzündung. Und deswegen sehe ich bekloppt aus und habe einige kognitive Einbußen, aber ich BIN nicht bekloppt!“
Mittlerweile hört der ganze Wagon zu.
OK, der Alte hat seinen Chauvinismus  und seine Schuld an ihr auszubaden. Meine Achtung vor ihrem Selbstbewusstsein steigt.
Irgendwie brechen sich ihre starken Sprüche mit dem riechenden und abstoßenden Äußeren.
Ich möchte wissen, warum das so ist und beginne leise zu ihr zu sprechen.
„Sie sind ja ganz schön selbstbewusst. Warum drücken sie das nicht auch in ihrem Äußeren aus?  Ich denke auch nicht, dass sie bekloppt sind. Aber sie wirken so ungepflegt und riechen so stark und ihre Haare sind so speckig.“
Ich weiß, dass ich ihr viel zu nahe trete, aber meine innere Stimme sagt mir, dass ich es riskieren sollte.
„Also so ist mir ja noch niemand gekommen. Wollen SIE mit mir losziehen und mit mir shoppen gehen? Bin ich vielleicht die Traumfreundin, mit der sie den Nachmittag verbringen wollen?“
Sie bleibt beim lauten Sprechen. Hier ist nichts mehr peinlich.
So, jetzt schauen und hören alle mir zu, die ganze Aufmerksamkeit liegt bei mir. Sowas kommt von sowas, denke ich.
„Ein Versuch wär es wert, ich würde nur auf zuvor gewaschene Haare bestehen. Und Friseurin muss auch sein.“
Jetzt spreche ich auch wieder laut.
Sie lacht ununterbrochen, steht auf und kann vor Lachen nicht aufhören zu zittern.
„Waschen die die Haare nicht vorher? “
Und als Nachsatz: „hast Du das Geld?“
„Nö, aber da hast Du ja die PAPATASTE.“
Sie lacht sich kringelig und dabei zittern die ganze Zeit ihre Beine.
„Wieviel brauchen wir?“
„Das ganze Outfit, 100 bis 150€ und die Friseurin 20 €. Ist billiger als dein Handy.“
Sie kann sich vor Lachen nicht halten.
Ich denke Mist, wie bekomme ich die Frau von dem Trip wieder runter. Wie geht das Zittern weg?
Sie schaut plötzlich völlig entgeistert.
„Scheiße, ich hätte aussteigen müssen. Was muss ich jetzt machen?“
Da beginne ich ein Gefühl für ihr Handikap zu bekommen und stehe auf.
„Ich steige mit aus und bringe Sie zur Station dorthin zurück, wo sie aussteigen mussten,“ biete ich an
„Nicht nötig, ich schaffe das alleine, ich bin nur so erschrocken.“
Sie lacht mich offen an.
„Steig trotzdem mit aus!“ herrscht sie mich an.
Wir steigen aus.
Auf dem Bahnsteig hält sie ihr Handy in die Luft.
„Schreib mir eine Nachricht“ ,und nennt auswendig ihre Rufnummer.
Ich wähle die Zahlen und rufe sie an.
Sie nimmt den Anruf entgegen und meldet sich mit:“ Hier ist die Irre.“
Wir lachen lauthals und erleichtert nehme ich wahr, dass sie nicht mehr zittert.
„ICH MELDE MICH!“ ruft sie mir klar zu. Wann und wo entscheidet sie, auch das ist unverbrüchlich.
„Auf Wiedersehen!“
„Tschüssing,“  erwidere ich.
Ihre Aussprache ist nicht betroffen vom Schaden.
Die Beine stecken wahrscheinlich mit in dem Schaden. Und die Blasenkontrolle auch.
Es wird bestimmt trotzdem ein heiteres Shopping.
„Ich gehe übrigens nicht gerne shoppen.“
Sie lacht mich frech an.
„Ich auch nicht“ gebe ich unerschrocken zu.
„Aber das mit dem Outfit stimmt und daran hilfst du mir. Gut so!“
Hand geben geht nicht. Auch das gehört zu ihrem Irr Sinn.
Macht nichts, sie kann sich klar ausdrücken und das brauche ich mit meinem Irr Sinn.
Auf dem Nachhauseweg fällt mir ein, dass ich auch ihre Rufnummer habe.
Irgendwie bin ich erleichtert.


4 Kommentare:

  1. irrsinn kann ich mir vorstellen.. wie habe ich damals gewirkt voll gepumpt mit den Medis aus der Psychatrie die meine Beine wackelten hin und her und meine verbundene Arme die sichtbar vom Pullover waren von meinen Verletzungen in der Bahn.Vielleicht auch meine Augen die in Angst umher geisterten ob jemand mich verfolgt.. das einzige dass ich sauber war und auch mit dem Anziehen. mhm..
    Ich find das mutig von dir ich hätte mir das nicht getraut muss ich echt zu geben. Ich hatte früher solch Erlebnis mit einer jungen Frau mit Bierflasche in der Hand und war lustig bunt begleitet, die Leute haben auch geschaut wie kann die mit der reden und es war auch irgendwie Lustig und die hat mir imponiert auch wie diese Frau. Ich bin mal gespannt ob es weiter geht und sie dich anruft!
    Lieben Gruss Elke

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  2. ich hatte einen längeren kommentar geschrieben, der mir dann irgendwie abhanden kam. hm...
    also auch ich bin sehr neugierig wie es weiter geht und finde deine reaktion einfach genial. ich kann auch eine menge aushalten und spreche auch mit "eigenartigen" (sind wir wohl alle) menschen, aber bei geruch und dreck auf armlänge werde ich einsilbig. aber mensch kann ja dazu lernen.
    schönen sonntag abend
    m.

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  3. Darauf habe ich schon lange gewartet....auf eine neue U-Bahn-Geschichte! Daß sie allerdings so irr wird, habe ich mir nicht vorgestellt. Und ja, wie Elke schreibt, sehr sehr mutig von Dir. Ich hätte da mit Sicherheit Abstand genommen - und auch Angst bekommen.

    Aber toll! So haben wir von Dir wieder eine starke Story, die nachdenklich macht. Bin auf die Fortsetzung gespannt!

    Aber ich wette mal, daß Deine Unbekannte Dich anruft :)

    Schöne Woche noch!

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  4. Eine tolle Geschichte und eine bemerkenswerte Reaktion von dir. Ich hoffe und wünsche dir/euch, dass die Fortsetzung von ebenso viel Gelächter begleitet ist. Aber auch wenn sie nicht anruft und es keine Fortsetzung gibt, ist es eine inspirierende Begegnung.

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