U Bahn Stories
Vollkommener
Irr Sinn
Nach einer
guten Stunde Spaziergang durch den
Friedrichshain erreiche ich die U- Bahnstation und betrete einen leeren Waggon.
Ich sitze so gerne in den kleinen Abschnitten, wo sich jeweils drei Personen
gegenüber sitzen können. Die zwei Plätze an dem Gestänge zum Ausgang sind meist
als Behindertensitzplätze ausgewiesen. Ich setze mich wie meist an den anderen
Rand. Ich kann die ein- uns aussteigenden Fahrgäste beobachten. Bis der Zug
abfährt, treten nur drei Männer und zwei Frauen ein. Eine setzt sich mir
gegenüber, ein junger Mann platziert sich auf einen der Behindertensitze.
Ich lese im
Tagesspiegel und bin fast abgetaucht in einem Artikel über Schizophrenie und
Kunst.
An der
ersten Station steigt eine Frau zu, deren Erscheinungsbild etwas irritiert.
Ihre Zähne stehen sehr schief. Die fettigen Haare fallen ihr in die Stirn. Ihre
Augen sind kaum zu sehen. Sie schaut niemanden an.
„Ich will
mich hier hin setzen.“
Sie zeigt
auf mich.
Ich fühle
mich überrumpelt und reagiere gar nicht.
„Ich will
hier sitzen!“ schreit sie mich an.
Ich denke
noch, naja, dann rutsche ich eben zur Seite, da poltert sie mich lauthals an.
„Ich bin
behindert!“
Hm, denke
ich, stimmt, aber der Sitz ist dann falsch. Und das sage ich ihr auch. Ich
weise auf den Platz links von mir, zeige auf das Schild und erkläre freundlich
aber bestimmt, dass dieser Platz für sie frei sei.
Sie bleibt
beharrlich stehen, hantiert etwas ungeschickt an ihrer Jackentasche, zieht letztlich
ihr Portemonnaie heraus und greift zielsicher eine Plastikkarte heraus und
beweist mir ihren Behindertenstatus.
Ich denke,
scheiss drauf, lass ihr ihren Willen und setze mich widerrechtlich auf den
Behindertenplatz und hege die Hoffnung, dass sie zur Ruhe kommt.
Weit
gefehlt. Sie zieht ein meganeues oberaffengeiles iPhone raus, macht mit ihren
Fingern zielsicher zwei drei switschende Bewegungen und lässt türkische Musik
laut ablaufen. Gleichzeitig riecht sie sehr scharf nach Urin.
Mittlerweile
bin ich interessiert an ihr. Ein Teil Ihrer Präsens gefällt mir, auch wenn sie mich damit
aus meinem Lese- und Lebenstakt gebracht hat. Ich mag Frauen, die DA SIND, sich
nicht verstecken. Laute Frauen. Frauen, die ihre Beine nebeneinander stellen
und wenn sie neben mir oder anderen sitzen auch nach außen fallen lassen. Der Geruch ist unangenehm.
Die Musik
ist klasse. Die anderen Passagiere sind empört und schauen sie an, aber niemand
sagt etwas.
In diesem
Moment klingelt ihr Telefon. SEHR LAUT. ARABISCHER KLINGELTON.
Ich denke,
das wird hier ja immer schärfer mit der Braut.
Mittlerweile
bin ich wieder einmal davon überzeugt das in Berlin U- Bahn zu fahren vollkommen
irre ist und sollte mir je der Stoff zum Erzählen ausgehen, ich einfach nur U
Bahn hin und herfahren muss, den Rest meines Lebens.
Sie geht ran
und schreit laut los.
Türkischdeutsch,
scharf und abgehackt wie beim Militär:
“ Ja ich
fahre wie immer um diese Zeit UBAHN!“
Dann wieder Türkisch
und Deutsch im Wechsel. Sie spuckt kleine Fäden aus dem Mund und sie anzusehen
ist etwas ekelig. Einzig ihre sehr akzentuierte durchbrechende deutsche
Sprechweise nimmt mich gefangen. Einwandfrei in Ausdruck und Grammatik. Auch
das ist irre gut.
Sie legt
auf, die Musik läuft weiter, sie gibt mit der Lautstärke Gas und mittlerweile
sehe ich sie ungehindert grinsend an.
„Meine
Mutter, vollkommen bekloppt. Jeden Tag ruft sie mich an und fragt, ob ich in
der U- Bahn sitze und jeden Tag muss ich darauf Antwort geben, als wäre ich
bekloppt!“ empört sie sich.
Ich verstehe
beide, die Sorge der Mutter und den Zorn der Tochter.
„Vielleicht
sorgt sie sich immer um die behinderte Tochter,“ versuche ich einzulenken.
„Ich bin
behindert, nicht bekloppt!“
„Aber sie
verhalten sich auffällig und es könnte auch passieren, dass da etwas schief
gehen kann.“
„Glauben sie
wirklich, dass mit mir in der U- Bahn irgendetwas schief gehen kann?“
Breitbeinig
springt sie auf und stellt sich in die Gangmitte.
Ich beginne
zu lachen.
„NÖ“ und
lache beherzt weiter.
Jetzt kann
sie sich auch nicht mehr halten und lacht.
„Sie haben das schärfste Handy der Welt, oder?!“
Es ist das
neueste i Phon und ich habe es noch nicht in Wirklichkeit gesehen. Der Sound ist super.
„Das ist
doch noch ganz neu und unheimlich teuer.“
Sie zeigt es
stolz her, hält es aber gewissenhaft fest umschlossen. Ich könnte es ihr nicht entreißen.
Sie kennt die Pappenheimer, die sowas tun, das merke ich.
„Das hat
mein Vater bezahlt.“ Sie schaut mich herausfordernd an.
„Das ist ja großzügig.“
„Nein, dazu
ist er verpflichtet. Er ist dafür verantwortlich, dass ich behindert bin und
wenn ich an dieser Schraube drehe, bekomme ich alles.“ Sie wirkt nicht
bauernschlau sondern kalkuliert haarscharf mit Reaktionen, denke ich. Vermute
aber gleichzeitig, dass ich damit vollkommen schief liegen kann. Vielleicht hat
sie ihre Impulse gar nicht unter Kontrolle und wirkt deshalb raffiniert und
zugleich auch abstoßend. Ich schwanke zwischen Lachen und Abscheu.
„Wieso ist
er dafür verantwortlich? Was hat er getan?“
„Besser ist
die Frage, was hat er unterlassen? Er hat mich bei hohem Fieber nicht ins
Krankenhaus gebracht, weil ich doch nur ein Mädchen bin. Dabei hatte ich eine Gehirnhautentzündung.
Und deswegen sehe ich bekloppt aus und habe einige kognitive Einbußen, aber ich
BIN nicht bekloppt!“
Mittlerweile
hört der ganze Wagon zu.
OK, der Alte
hat seinen Chauvinismus und seine Schuld
an ihr auszubaden. Meine Achtung vor ihrem Selbstbewusstsein steigt.
Irgendwie
brechen sich ihre starken Sprüche mit dem riechenden und abstoßenden Äußeren.
Ich möchte
wissen, warum das so ist und beginne leise zu ihr zu sprechen.
„Sie sind ja
ganz schön selbstbewusst. Warum drücken sie das nicht auch in ihrem Äußeren
aus? Ich denke auch nicht, dass sie
bekloppt sind. Aber sie wirken so ungepflegt und riechen so stark und ihre
Haare sind so speckig.“
Ich weiß,
dass ich ihr viel zu nahe trete, aber meine innere Stimme sagt mir, dass ich es
riskieren sollte.
„Also so ist
mir ja noch niemand gekommen. Wollen SIE mit mir losziehen und mit mir shoppen
gehen? Bin ich vielleicht die Traumfreundin, mit der sie den Nachmittag
verbringen wollen?“
Sie bleibt
beim lauten Sprechen. Hier ist nichts mehr peinlich.
So, jetzt schauen
und hören alle mir zu, die ganze Aufmerksamkeit liegt bei mir. Sowas kommt von sowas, denke ich.
„Ein Versuch
wär es wert, ich würde nur auf zuvor gewaschene Haare bestehen. Und Friseurin
muss auch sein.“
Jetzt
spreche ich auch wieder laut.
Sie lacht ununterbrochen,
steht auf und kann vor Lachen nicht aufhören zu zittern.
„Waschen die
die Haare nicht vorher? “
Und als
Nachsatz: „hast Du das Geld?“
„Nö, aber da
hast Du ja die PAPATASTE.“
Sie lacht
sich kringelig und dabei zittern die ganze Zeit ihre Beine.
„Wieviel
brauchen wir?“
„Das ganze
Outfit, 100 bis 150€ und die Friseurin 20 €. Ist billiger als dein Handy.“
Sie kann
sich vor Lachen nicht halten.
Ich denke Mist,
wie bekomme ich die Frau von dem Trip wieder runter. Wie geht das Zittern weg?
Sie schaut
plötzlich völlig entgeistert.
„Scheiße,
ich hätte aussteigen müssen. Was muss ich jetzt machen?“
Da beginne
ich ein Gefühl für ihr Handikap zu bekommen und stehe auf.
„Ich steige
mit aus und bringe Sie zur Station dorthin zurück, wo sie aussteigen mussten,“
biete ich an
„Nicht
nötig, ich schaffe das alleine, ich bin nur so erschrocken.“
Sie lacht
mich offen an.
„Steig trotzdem
mit aus!“ herrscht sie mich an.
Wir steigen
aus.
Auf dem
Bahnsteig hält sie ihr Handy in die Luft.
„Schreib mir
eine Nachricht“ ,und nennt auswendig ihre Rufnummer.
Ich wähle
die Zahlen und rufe sie an.
Sie nimmt
den Anruf entgegen und meldet sich mit:“ Hier ist die Irre.“
Wir lachen
lauthals und erleichtert nehme ich wahr, dass sie nicht mehr zittert.
„ICH MELDE
MICH!“ ruft sie mir klar zu. Wann und wo entscheidet sie, auch das ist
unverbrüchlich.
„Auf
Wiedersehen!“
„Tschüssing,“
erwidere ich.
Ihre
Aussprache ist nicht betroffen vom Schaden.
Die Beine
stecken wahrscheinlich mit in dem Schaden. Und die Blasenkontrolle auch.
Es wird
bestimmt trotzdem ein heiteres Shopping.
„Ich gehe
übrigens nicht gerne shoppen.“
Sie lacht mich frech an.
„Ich auch
nicht“ gebe ich unerschrocken zu.
„Aber das
mit dem Outfit stimmt und daran hilfst du mir. Gut so!“
Hand geben
geht nicht. Auch das gehört zu ihrem Irr Sinn.
Macht
nichts, sie kann sich klar ausdrücken und das brauche ich mit meinem Irr Sinn.
Auf dem
Nachhauseweg fällt mir ein, dass ich auch ihre Rufnummer habe.
Irgendwie
bin ich erleichtert.
irrsinn kann ich mir vorstellen.. wie habe ich damals gewirkt voll gepumpt mit den Medis aus der Psychatrie die meine Beine wackelten hin und her und meine verbundene Arme die sichtbar vom Pullover waren von meinen Verletzungen in der Bahn.Vielleicht auch meine Augen die in Angst umher geisterten ob jemand mich verfolgt.. das einzige dass ich sauber war und auch mit dem Anziehen. mhm..
AntwortenLöschenIch find das mutig von dir ich hätte mir das nicht getraut muss ich echt zu geben. Ich hatte früher solch Erlebnis mit einer jungen Frau mit Bierflasche in der Hand und war lustig bunt begleitet, die Leute haben auch geschaut wie kann die mit der reden und es war auch irgendwie Lustig und die hat mir imponiert auch wie diese Frau. Ich bin mal gespannt ob es weiter geht und sie dich anruft!
Lieben Gruss Elke
ich hatte einen längeren kommentar geschrieben, der mir dann irgendwie abhanden kam. hm...
AntwortenLöschenalso auch ich bin sehr neugierig wie es weiter geht und finde deine reaktion einfach genial. ich kann auch eine menge aushalten und spreche auch mit "eigenartigen" (sind wir wohl alle) menschen, aber bei geruch und dreck auf armlänge werde ich einsilbig. aber mensch kann ja dazu lernen.
schönen sonntag abend
m.
Darauf habe ich schon lange gewartet....auf eine neue U-Bahn-Geschichte! Daß sie allerdings so irr wird, habe ich mir nicht vorgestellt. Und ja, wie Elke schreibt, sehr sehr mutig von Dir. Ich hätte da mit Sicherheit Abstand genommen - und auch Angst bekommen.
AntwortenLöschenAber toll! So haben wir von Dir wieder eine starke Story, die nachdenklich macht. Bin auf die Fortsetzung gespannt!
Aber ich wette mal, daß Deine Unbekannte Dich anruft :)
Schöne Woche noch!
Eine tolle Geschichte und eine bemerkenswerte Reaktion von dir. Ich hoffe und wünsche dir/euch, dass die Fortsetzung von ebenso viel Gelächter begleitet ist. Aber auch wenn sie nicht anruft und es keine Fortsetzung gibt, ist es eine inspirierende Begegnung.
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