Samstag, 20. Juli 2013

MARATHON




MARATHON


Ihren ersten Marathonlauf absolvierte sie mit 19 Jahren in 4 Stunden und 10 Minuten.

Sie läuft mit der Kraft, die Ruhe sucht und Frieden schafft, welchen Frieden auch immer. Jedes Mal ist es ein anderes Thema. Manchmal ist der Lauf das Thema, immer ist es der Körper, der schafft. Diese Mal ist es ein Lauf mit dem Nachdenken über all jene Menschen in ihrem Leben, die in den letzten zwei Jahren verstorben sind. Ein ruhiger und guter Lauf wird sie später sagen.

Als kleines Mädchen verließen sie die Beine. Die Schenkel sprangen aus den Beckenschalen, so wie Felsbrocken ins Tal hinabkrachen, am Ende steht kein Stein mehr auf dem anderen. Meine Schwerster hatte grade begonnen, von Stein zu Stein zu hüpfen, Gummitwist, Hopse malen und springen, was Kinder in diesem Alter so entdecken. Die Welt liegt voller Möglichkeiten vor uns, da verlassen uns die Kräfte nicht von einer zur anderen Minute. Der Schmerz kam. Er kam immer wieder. Er wurde nicht gehört. Sie sprach von dem Schmerz. Sie wurde nicht gehört. Der Schmerz galt nicht in den Ohren der Erwachsenen. Dann zerriss er dem hüpfenden Mädchen die Seele und sie schrie nein. Ungehört wuchs er in ihre Welt des Laufens und riss ihr die Kraft aus dem Leib und stieß sie erbarmungslos auf den Boden. Sie fiel zur Erde. Sie konnte keinen Schritt mehr tun.

Wer kleinen Mädchen im Schmerz misstraut und ihn zu mindern sucht, wird irgendwann im eigenen Schmerz ersticken, aber bis dahin blieb er bei dem Mädchen. Er zwang sie ins Krankenhaus, in die Knochen Chirurgie, auf Holzbretter, und er hinterließ auf dem Körper große Narben. Narben so lang wie Bleistifte und dick wie Wachsmalkreide. Er hinterließ Wundschmerz, Juckreiz, Rückenschmerzen, Kraftverlust und Ohnmacht.

Die Schwester lag. Monate lang. Sie lebte auf und in Gegenwart der Mutter verdarb sie fast wieder. Sie verdarb fast vor dem Leben. Bis das Personal die Mutter verwiesen. Dann gab´s Luft zum Atmen und dennoch blieb der lange Atem der Heilung, den ein kleines Mädchen natürlich nicht hat. Sie spürte vielleicht den Willen zu springen, zu laufen und zu hüpfen und frei zu springen, sich ungehemmt durchs Leben zu bewegen. Die Wirklichkeit war ein unbewegliches Kind im Bett. Im Gips, angebunden, fest gemacht. Meine Schwester lag fast ein Jahr im Krankenbett.

Aber irgendwann stand sie auf. Ich weiß nicht wie. Ich weiß nichts darüber, wie sie das Laufen neu lernte. Sie lernte es aber aufs Neue. Sie erinnerte sich vielleicht daran, aber sie brauchte ja neue Kraft in die Beine hinein. Sie wackelte wie ein unsicheres Vogeljunges am Ufer eines Sees. Daran erinnere ich mich. Sie strauchelte bestimmt. Wer hielt sie im Straucheln? Wer bei uns Zuhause lief neben ihr, stand ihr bei in der Unsicherheit des täglichen Gehens. Von wem fühlte sie sich gehalten und getragen?

Sie stand auf, lernte laufen, zur Schule gehen, Gitarre spielen, dazu singen, schreiben, lesen. Sie liebte es zu lachen, sie mochte Humor und spielte Kabarett. Sie gewann Freunde und verlor Freundinnen. Sie versuchte die Liebe und wurde Partnerin. Sie studierte. Sie half Menschen. Sie hörte zu und sprach eher leise. Sie fühlte sich ein bis zur Selbstaufgabe. Sie fiel hin. Sie stand auf. Sie rannte weg und kam woanders an. Sie hatte gründlich gelernt, auf die Beine zu kommen…immer wieder.

Und sie hatte gelernt zu laufen, schon in jungen Jahren joggte sie. Sie verbrauchte Schuh um Schuh. Andere Menschen verlieren die Übersicht, sie verliert Jahraus jahrein mindestens zwei Paar Schuhe. Sie begann schon früh Marathon zu laufen. Sie stellt sich auf ihre Beine und läuft davon, um ihr Leben, um den Druck im Leben auszuhalten, um ihrem Leben Kraft zu schenken, um sich zu spüren, um sich aufzurichten, um in der ruhigen Natur den eigenen Rhythmus zu spüren und zu finden. Sie läuft und steht und läuft.

Sie begann mit 19 Jahren und ist heute 49 Jahre alt. Übermorgen läuft sie das letzte Mal einen Marathon. Sie läuft den ZWEISPURBETONTRASSENMARATHON. Sie ist unzählige gelaufen, nur drei Mal hat sie vor dem Ende aufgehört. Manchmal hängen diese drei nach. Übermorgen werden auch diese drei mitlaufen und die anderen werden sie tragen. Ihr Mann wird sie am Wegesrand tragen. Sie selber trägt sich schon lange, immer wohl.

Jetzt ist der Lauf vorüber. Sie ist 5 Stunden 17 Minuten gejoggt. Sie hat keine Muskelbrände und sie ist glücklich. Es war der SCHÖNSTE Lauf sagt sie. Alles durchgeknallte Leute, übersichtliche Anzahl, alle total nett und speziell. Du bekommst die anderen mit, hast wirklich Kontakt. Die Jogger haben sich selber versorgt. Also die Angehörigen versorgen die Jogger. Einer hat sein Wohnmobil dabei und bietet jedem eine Dusche an, eine andere massiert Füße. Mein Schwager hat in einem Campingstuhl gesessen und ist alle halbe Stunde beherzt aufgesprungen, hat HIPHIPHURRA gerufen, hat sich wieder gesetzt und weiter in den Lübecker Nachrichten gelesen, in der tiefen Sicherheit, dass sie in einer halben Stunde wieder genau hier vorbeikommt. Sie laufen 4 km im Quadrat, also auch das sehr übersichtlich. Zuschauerfreundlich…hihihi. Die Leute im Norden sind skurril und klasse. Da kommen vielleicht mehr Zuschauer_innen als Läufer_innen, hat auch seine Vorzüge. Man könnte im Gründe Parallel auch ein Boule Matsch absolvieren oder so. Auf jeden Fall zusammen Café trinken und Kuchen essen. IRRE………..


Und meine Schwerster? Und ihre Beine?
Laufen wird sie weiter, vermutlich Paar um Paar.
Aber wer hat sie damals gehalten?
Ist das Laufen selber der Halt?
Ich bewundere meine Schwester. Sie ist eine wunderbare Läuferin. Ich kenne niemanden, der einen so erhabenen Gang hat und erhobenen Kopfes durch die Welt läuft. Auch wenn sie nicht joggt, aber dann auch.











7 Kommentare:

  1. vielen Dank für diese persönliche Gescicte von diener aussergewönliche mutige Schwester, die sich so ins Leben zurück kämpfte!!!! meine Tränen fliessen vor freude dass sie so glücklich ist nach dem was so viel Lebenskraft kostetste und so viel Wert war um so grossartiger Mensch all die Jahren zu sein.
    Ein gutes Beispiel dass es Wert hat sich niemals auf zu geben oder davon abhalten zu lassen im Leben dazu gehören mit Körper und Seele wie Herz...

    Schönes Wochenende wünsche ich dir
    ganz lieben Gruss Elke

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    1. Liebe Elke, genauso sehe ich das auch.
      Danke für Dein Vorbeischauen.
      Ich wünsche Dir auch ein schönes Wochenenede und Danke für Deine bezaubernden Worte Du Liebe

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  2. sie strahlt was wunderbares aus, so angenehm und sympathisch.
    und sie hat eine tolle schwester!
    m.

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    1. DANKE für die rührenden Worte und diese Rückmeldung.

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  3. Mir blieb fast die Luft beim Lesen weg.....Wow - so ein starkes Mädchen, so eine starke Frau! Damals hat sie ganz bestimmt ein guter Engel gehalten. Liebe Grüße an Dich und Deine Schwester :)

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    1. DANKE liebe Hanne,
      sie ist meine Lieblingsschwester,
      ich hab aber auch nur diese eine...aber heute finden wir uns endlich auch toll...wie Schwesternwege ja auch so sein können...schönen Wochenstart Dir

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  4. Ich bin tief beeindruckt!!

    Viele Grüße
    Oona

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