Donnerstag, 20. April 2023

ALTERSARMUT

 

 
 


 
Wenn jemand Dir überraschend einen Café
bezahlt, kann das einem Gewinn gleichkommen,
denn Du lernst eine Person kennen,
die Großzügigkeit schätzt.
(Autorin unbekannt)
 
 
Es ist ja politisch unkorrekt geworden, bei Starbucks ein Café zu trinken oder überhaupt diese Kette zu betreten.
Ich lernte Starbucks in Canada kennen bei meinem Aufenthalt in Vancouver. Zu dieser Zeit gab es in Deutschland weder Coffeetogo noch Ketten wie diese. Wir betraten damals den Shop und die Location überwältigte uns völlig. Der Coffeeshop war eingebettet in eine Buchhandlung, die spezialisiert war auf Kunstbildbände. Sozusagen ein Paradies auf Erden. Kunstkartensets von Georgia O´Keeffe neben großformatigen DIN A2 Bänden von Giséle Freund und Judy Chicago und viele andere Malerinnen mehr. Wir verbrachten einen halben Tag dort in großen gemütlichen roten Ledersesseln mit einem Café Angebot, was mich völlig überforderte, aber auch animierte, alles Mögliche zu probieren.
Da ich in fremder Währung zahlte und ohnehin unterwegs war, ich kann mich nicht daran erinnern, dass und ob mir die Preise für den Café zu hoch erschienen oder waren. Die Bücher jedenfalls waren erschwinglich.
Wir mussten genau überlegen, was zu kaufen war, denn am Ende würden wir Wochen später mit einem Flugzeug fliegen. Am Ende kam es ganz anders, wir verschickten nämlich Pakete, mit neuen Winterjacken, Büchern, Wanderschuhen.
Internet gabs noch nicht, wir konnten also nicht Googlen, ob wir die Bücher auch in Europa bekämen, auch das löste sich später auf, niemand kannte unsere Bücher und sie wären nicht mehr zu bekommen gewesen.
Wir waren seelig. Wieviel fröhlicher ich reagierte, als Jahre später Starbucks auch in Berlin Fuß fasste, als Coffeetogo auch hier einzog, das muss ich nach diesem Kennenlernen nicht erklären.
Viel später dann geriet ich in eine Demo der Mitarbeiterinnen, und war begeistert von ihrer Kreativität und der Bildung eines Betriebsrates und ich besuchte die Shops nicht mehr. Zumal die Verquickung mit Kultur hier in Berlin nie stattfand. Und Caffeetogo wurde auch out.
Aber vor einigen Wochen hatte ich eine Stunde Wartezeit und die Bushaltestelle lag direkt an einem Store und ich betrat den Shop. Die Möbel gemütlich, kleine Tische, ich konnte also schreiben und überall genug Distanz. Ich bestellte mir einen kleinen Milch Café und bekam einen Jahrhundertbecher voll und zahlte auch einen guten Preis. Neben mir stand eine ältere Dame und sie zuckte zusammen, als die Bedienung ihr den Preis nannte. Sie schaute in ihre Hand und es war klar, das Geld würde nicht reichen. Ich kenne das Zusammenzucken, diesen Moment, du willst Dir endlich etwas gönnen, vielleicht kommst Du grade aus einer ärztlichen Untersuchung und Du musst Dich bei einem Café entspannen und denkst nicht weiter nach. Ich lächelte sie an und legte das Geld drauf was fehlte. Sie schaute fragend.
Ich sagte:
„Ich habe gestern meine Wohngeldnachzahlung bekommen, es ist kein Problem.“
 Ihr wurde der Espresso liebevoll mit Wasser dazu gereicht und ich half ihr das Gedeck zu tragen, was nämlich das nächste Problem gewesen wäre, sie war etwas gangunsicher.
„Ich habe überhaupt kein Wohngeld beantragt“,
war dann ihr erster Satz, als wir nebeneinander an zwei kleinen Tischen in Coctailsessel Imitaten saßen.
„Sollten sie aber, so wie sie zusammengezuckt sind. Sie haben wahrscheinlich so wenige Rente, dass sich vermutlich auch sonst jede zusätzliche Ausgabe verbietet.“
Ich lachte.
„Ich kenne das, sie müssen sich nicht doof vorkommen“,
und dann nannte ich ihr meine Rentenhöhe. Sie war entzückt, sie hatte nur zwei Drittel davon.
Ihre Miete war auf Nachfrage von mir im Verhältnis zum Einkommen ungefähr wie bei mir.2/3 des Einkommens.
„Sie müssen es beantragen!“
Und dann begann ich ihr die Vorzüge aufzuzählen. 
Mit dem Bescheid erhalten sie eine Bescheinigung, die sie überall vorzeigen können. Und dann werden sie erfahren, was alles geht. Kostenlose Museeumsbesuche, kostenfreies Schwimmen in Bädern, Ermäßigung bei VHS Kursen, Zookarten sind total günstig, insbesondere die Jahreskarten, in der Deutschen Oper gibt es tolle Tarife mit der Bescheinigung.
„Kulturelle Teilhabe ist mit geringem Einkommen möglich geworden!“
beendete ich meinen enthusiastischen Vortrag.
Ich hatte sie überzeugt.
„Wo bekomme ich die Formulare her?“
„Haben sie ein Handy?“
Sie zog es heraus und ich erklärte ihr erstmal das einloggen ins Starbucknetz und dann googelte sie eigenständig die Ausgabestellen für die Formulare.
„Haben sie Internet? Und einen PC oder Laptop?“
Sie bejahte und dann war auch klar, dass sie sich das Ausdrucken konnte, aber auch da waren wir uns gleich einig, die Druckkosten waren zu hoch, also doch lieber abholen.
„Wissen sie, es gibt Menschen, die wissen überhaupt nicht, von welchen Schwellen der Geldknappheit wir hier sprechen.“
Sie schaute mich vielsagend an.
Ja, das hatte ich auch erlebt.
„Das schlimmste ist, dass die anderen denken, wir hätten einfach nicht genug gearbeitet oder wären sowieso faul gewesen und dann würde uns das Geld in Sozialleistungen noch nachgetragen und sie bekämen gar nichts.“
Ich lachte, wie gut ich das kannte.
„Wissen sie, am Anfang fand ich das auch kränkend, mittlerweile denke ich: einfach nicht der richtige Umgang oder andere Menschen leben in anderen Welten oder die lernen durch uns noch was über gesellschaftliche Zusammenhänge hinzu.“
Jetzt lachte sie.
Plötzlich wurde sie nachdenklich.
„Früher habe ich ehrenamtlich in einer Sozialkommission mitgearbeitet und habe den Menschen, die Sozialhilfe bekamen, die Anträge fürs Kohlengeld und die Energiekosten nach Hause getragen. Was ich da erlebt habe, das kann sich niemand vorstellen.
Ich glaube, da sollte ich wieder mitarbeiten.“
Dann erzählten wir uns aus unseren Leben und Berufen und am Ende tauschten wir unsere Rufnummern aus und sie schlug vor, dass sie mich bei Nachfragen anrufen und bei eventueller Nachzahlung dann mich zu einem Café einladen würde.
Meine Wartezeit von der Stunde war im Fluge vergangen und der Coffeeshop hatte bei allem wenn und aber gegenüber der Kette einen wunderbaren Raum geboten um einander zu begegnen und auszutauschen.
Natürlich hat sie Wohngeld bekommen, natürlich geht sie in die Oper und besucht Museen. Zusammen haben wir uns im Zoo unsere Lieblingstiere gezeigt. Sie macht mittlerweile Sozialberatung in ihrer Gemeinde. Ich bin nach wie vor eine große Anhängerin von der kulturellen Teilhabe und der abgewendeten Altersarmut von Frauen, denn darum geht es. Frauenaltersarmut. Scham war gestern!

1 Kommentar:

  1. Einfach grossartig diese Begegnung! Und alles Liebe für Beide!
    Noch ein schönes Leben wünsche ich euch
    Silvia, ohne Homepage, ohne Blog

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