Sonntag, 3. Juli 2022

WONDERSTORIES/Ämter und die Meistersinger von Nürnberg






WONDERSTORIES Ämter und die Meistersänger von Nürnberg

 

Alles sprach dagegen, dass es ausgerechnet an diesem Tag zu dieser Stunde erfolgreicher verlaufen sollte als bei allen vorherigen Versuchen.

Ende letzten Jahre erhielt ich inmitten der dritten Corona Welle ein Anschreiben  der Senatsverwaltung, dass ich meinen uralten, auch Lappen genannten Führerschein in einen EU gültigen umzutauschen hätte. Ich wäre Jahrgang 56 und hätte dies bis Ende Januar 22 zu erledigen. Ich las es und dachte so, und wie bitte soll das bei der Terminzeitfenstervergabetechnik funktionieren?

Zeitfenster buchen? Hallo? Versuch das mal! Alles zugebucht. Ich versuchte es drei Mal, halbherzig zugegebener Maßen, aber immerhin.

Irgendwann dann versuchte ich es über die Berliner Hotline 115 und bekam die Ansage:

„Sie befinden sich in der Warteschleife auf Position 88 und ihre Wartezeit dauert 1 Stunde und 45 Minuten.“

Ich legte auf. Meine innere Stimme sagte mir, daß ich einfach auf andere Zeiten warten und mich mit meinem grauen Lappen weiterhin durch die Welt bewegen sollte. Ich fuhr ohnehin fast ausschliesslich mit den offentlichen Verkehrsmitteln und mit dem Rad, am allerliebsten laufe ich. Ich besitze nicht einmal ein Auto. Irgendwann mußte ich im April mal in Norddeutschland ein Auto mieten und als ich meinen Führerschein vorzog, lächelten die und beruhigten mich, Berlin, wir wissen schon, ihre Frist zur Umwandlung wurde auf Juli 22 verlängert, selbstverständlich erhalten sie von uns einen Wagen.

Jetzt, Ende Juni, an einem Donnerstag hatte ich den Impuls, einen erneuten Versuch zu wagen, einen Termin zu erhalten. Ich wartete auf einen Handwerker und dachte, dies wäre doch einen gute Methode, die Wartezeit sinnvoll zu nutzen. Die Onlinekalender waren ausgebucht, das merkte ich schnell.

Dann wählte ich die 115. Eine Stimme vom Band lächelte mich an und sagte:

Die Berliner Hotline liebt ihre Fragen, haben Sie bitte noch einen Moment Geduld, wir sind gleich für Sie da. Sie sind an Position 12 und ihre Wartezeit dauert 4 Minuten. Dazwischen immer wieder die flötende Ansage, dass sich die Hotline über meine Fragen freuen würde. Irgendwie fühlte ich mich wohl und willkommen geheißen.

Dann erschien eine Männerstimme, stellte sich formvollendet vor und fragte nach meinem Anliegen. Ich schilderte es ihm und er bot mir an, zuerst mal in meinem Bezirk zu schauen. Da gab es was am 26.8.22 und ich mußte leider sagen, dass ich da in den Ferien sei. Er blieb freundlich, fragte nach der Zeit meiner Abwesenheit von Berlin, und kündigte dann an, mal in den anderen Bezirken zu schauen.

Heute, um 16 Uhr in Spandau!

Nehme ich!

Moment, Sie brauchen noch ihre Zugangsnummer. Und ich bekam die Zahlenfolge, die ich bis zum Abend auswendig hersagen konnte, so erleichtert war ich.

Woher zaubern Sie heute einen Termin?

Ich habe Zugang zu den Absagen und grade vor 5 Minuten hat jemand Corona bedingt abgesagt.

Ich bedankte mich. Er wollte dann noch meine Rufnummer, falls doch noch irgendwas dazwischen käme im Amt.

Ich so, was soll da jetzt dazwischenkommen?

Es muss nur eine Person an Corona erkranken, dann wird dicht gemacht. Dies war wirklich der einzige Moment an diesem Tag, da ich inständig betete, dass dies bitte nicht geschehen sollte, denn sonst würde ich nie mehr einen Führerschein beantragen.

Bevor ich aus dem Haus ging, hatte ich ohne Grund das Bedürfnis, mich schön zurecht zu machen, etwas Schmuck anzulegen und eine schöne Garderobe auszuwählen. Ich hatte keinen Grund dafür, es ergab sich einfach so und später sollte ich froh sein.

Es passierte nichts, also kein Anruf vom Amt. Ich war pünktlich vor Ort, die Atmosphäre war freundlich, ich konnte bar oder per Karte zahlen, es wurde auch angeboten, mir den Führerschein direkt zuzusenden mit einer kleinen Auf Gebühr und ich durfte sogar meinen alten Führerschein behalten und bekam einen vorübergehend gültige Bescheinigung über diesen Vorgang.

Der neue Führerschein hat eine Befristung von 15 Jahren. Dann bin ich 81 Jahre alt. Wird dies also mein letzter sein? Oder will ich 96 Jahre alt werden? Oder gibts mich dann ohnehin nicht mehr? Aber merkwürdig ist es schon, dass diese Zeiträume jetzt in meinem Leben überhaupt eine Rolle spielen, die Unendlichkeit ist mit von der Partie...Stop das war eine Fehlleistung...ich meinte natürlich die Endlichkeit.

Alle hatten mich vorgewarnt: Du wirst Strafe zahlen müssen, wenn Du so zu spät den Antrag stellst und wenn Du von der Polizei erwischt wirst, wird das noch teurer. Diese Gedanken machte ich mir nicht. Ich hatte einen gültigen Führerschein und ich hatte ihn selber bezahlt. Wer ihn mir wegnehmen wollte, mußte mit mir rechnen.

 

Es war schnell gegangen, nach 20 Minuten war ich aus dem Rathaus raus und schlenderte erst einmal durch die Altstadt. In der U-Bahn dann bekam ich Lust darauf, am Richard Wagner Platz auszusteigen und ein wenig durch Charlottenburg zu wandeln. Vor der Deutschen Oper, wo ich anfing zu fotografieren, erblickte ich erstaunt vor 17 Uhr wunderschön zurecht gemachte Menschen und dachte noch so, ist ja wie in Bayreuth, wo die Konzertbesucherinnen am Nachmittag über den Hügel hinauf laufen. Neugierig schaute ich auf den Spielplan und Potz Blitz, ich lag gar nicht so falsch: Die Meistersinger von Nürnberg. Bow dachte ich, das wärs doch jetzt, fünf Stunden Wagner. Dachte es und ging an die Kasse: Habe ich eine Chance jetzt für heute?

Haben Sie, sprach mich von hinten eine ältere Dame an. Ich habe eine Karte über, meine Freundin ist an Corona erkrankt. Ich schenke sie ihnen.

Wäre nicht das Corona gewesen, ich wäre ihr um den Hals gefallen.

Dann gehen die Pausen aber an mich!

Einverstanden.

 

Es waren fünf verrückte Stunden. Ich liebe es, wenn Oper und Musik anders funktioniert und dargeboten wird als früher.  Aber so viel moderne Inszenierung und zeitgleich wunderbarer Gesang wie heute überraschte mich und es war wie früher als Kind : Brüche in der Kultur gefielen mir schon immer.

Am Ende wurde gebuht und geklatscht und ich fand, alles war genau richtig.

Meine Abendbegleitung bemerkte dann zum Schluss:

Wer bei Wagner Applaus und Buhs erhält, hat alles richtig gemacht. Stimmt, erinnerte ich  mich, diese Einschätzung gibt es, seit es Wagneraufführungen gibt. Ich konnte damit nur nie etwas anfangen. Auch heute nicht.

 

Viele Erinnerungen an meine Jugend wurden wach und ich hatte wahrlich seit 20 Jahren nie mehr das Bedürfnis gespürt, Wagner zu hören. Und jetzt war es genau der richtige Zeitpunkt, die richtige Inszenierung und tolle Gesänge und ein wunderbarer Orchesterklang. Wieder konnte ich feststellen, dass Corona mich hatte empfindsamer und toleranter und sehnsüchtiger werden lassen. Und durchlässiger und neugieriger. Vor drei Jahren wäre ich ums Verrecken nicht in eine Opernaufführung von Wagner gegangen. Die Musil mochte ich schon immer, aber das Gedöns darum herum und natürlich die Texte, diese tradierten Rollenbilder...da bin ich auch heute weit von entfernt...aber die Musik, das dramatische, bewegte und bewegende...das mag ich gerne und an diesem Abend war ich musikalisch sehr zu ergreifen. Jetzt war ich reif für diese Musik und spürte eine Sehnsucht nach meiner Familie und der Musik, die uns immer alle verband. Ich finde Wagner war eine Drama Queen und mein Vater, mein Bruder und ich hatten diese Anteile auch und ich vermute, dies war auch unser Zugang zu unseren Gefühlen, die darin einen Ausdruck fanden

Ich vermißte an diesem Abend meine Eltern, auch das hatte es nach ihrem Tod so noch nicht gegeben. Dieser Teil meiner Kindheit und Jugend war definitiv ein privilegierter und sie haben mir einen Zugang zu kreativem Reichtum ermöglicht. Danke an den Himmel, auch für den Tag.





 

 

 

                                                                           

4 Kommentare:

  1. Da hast du doch Glück gehabt mit dem neuen Führerschein und deine Erlebnisse habe ich interessant gelesen und nach fühlen können. Ja, solche Tage kann man Dankbar sein auch wenn ein wenig Wehmut mit dabei schwingt doch positive Erinnerungen sind gut.
    Lieben Gruß Elke

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Liebe Elke, Wundertage tragen beides in sich und machen doch Mut. Liebe Gruß zurück

      Löschen
  2. Was für eine Geschichte!!! Wie wunderbar sich alles aufgebaut und gefügt hat. Das war ein Wonderstory–Tag in Höchstform 😎Danke dafür und liebe Grüße von Hanne ☺️

    AntwortenLöschen
  3. Liebste Hanne,
    ich wusste, dass Du ein Fan für diese Geschichte bist, Liebe Grüße zur Fränkin von hier aus

    AntwortenLöschen