Samstag, 20. Juli 2019

ALZHEIMER




Als unser Vater seine Kinder vergaß, konnte er sich glücklich schätzen, dass seine Frau und seine Schüler für immer in seinem Gedächtnis bleiben sollten. Es blieb bis zum Schluss ein Rätsel, warum sein Gedächtnis diese Leitplanke anpeilte.
Als unser Vater starb, war einer seine letzten Fragen an unsere Mutter, wie es den Kindern geht.
Wer den Schmerz vergessen worden zu sein nicht kennt, kann sich nicht vorstellen, welch ein großer Trost für mich in dieser Frage emporstieg.
Alzheimer ist aus jeder Sicht ein Rätsel. Ich löse es nicht. Jeder Name, der mir entfällt, jeder Begriff, den ich suchen muss, jede Begebenheit, die ich vergesse, ich kann nichts dagegen tun, ich brauche meine Weile zum Suchen. Ich stelle es mir alptraumhaft vor, dann nichts mehr zu finden.
Obwohl ich beruflich eine Weile lang sehr viel mit Alzheimer Patiernte*innen zu tun hatte, übersah ich bei meinem Vater alle sich über Jahre hin entwickelnden Symptome. Bei meinem Schwiegervater erkannte ich sie umgehend. Gereiztheiten, unerklärliche Begegnungen, seine Vergesslichkeiten, Ausfälle beim Autofahren, aber vor allem etwas unerklärlich unberechenbares im Wesen. Schleichend und von unserer Mutter auch immer wieder gedeckt.
Ich habe die Scham der Ehefrauen kennengelernt. Ich habe auch Bekanntschaft mit dem Schmerz anderer Kinder gemacht. Unvergesslich in meinem Gedächtnis eingebrannt ist die Begegnung mit einem Oberpfleger, der völlig aufgelöst und unendlich verletzt die Hände vors Gesicht schlug, als seine Mutter ihn morgens beim Kaffeeausteilen fragte, wer er denn sei. Er hatte sie vor geraumer Zeit auf seine Station geholt und sich weiterhin rührend zusammen mit seinem Lebensgefährten um sie gekümmert. Er wusste, dass ihn eines Tages diese Situation geschehen könnte, aber er reagierte fassungslos. Seine Trauer hat mir letztlich geholfen, als mein Vater mich nicht mehr erkannte. Unwirsch versuchte er mich aus seinem Blickfeld zu verscheuchen. Ich fühlte mich verletzt. Natürlich! Ich erinnerte mich an die Jahre zurückliegende Begebenheit und wusste mich nicht alleine.
Etwas daran erschien mir konsequent. Seine pädagogischen Fähigkeiten entfalteten sich in seiner Begegnung mit seinen Schülern. Seine Loyalität schenkte er seiner Frau, unserer Mutter. Wir Kinder reagierten zu allen Zeiten sehr unterschiedlich auf diese Familienkonstellation und seine Prioritätensetzung.
Einmal drang ich vor seinem Tod noch zu ihm durch. Ich besuchte ihn und brachte eine CD mit. Er war irritiert von meiner Gegenwart und konnte mit mir nichts anfangen. Ich legte die CD ein. Ein Teil seines Gedächtnisverlustes betraf auch seine eigene Berufung. Meist wusste er nicht, wer er war.
Es handelte sich bei der CD um eine Einspielung der Bläserkonzerte von Mozart. Als das Solo begann, hob er plötzlich den Kopf und lauschte konzentriert. Er wirkte vollkommen wissend und gesund.Musik erreicht fast alle. Die einen singen fehlerfrei alle Strophen alter Lieder, die anderen lauschen fasziniert.
„Ein wunderbarer Ansatz“, kommentierte er zum Anfang den solistischen Part. Er lauschte weiter, wir hörten beide zu. 
"Da hat aber jemand wirklich gut geübt!" 
Er meinte das ganz ernst und ich erinnerte mich plötzlich, mit welch einer Präzision er damals die Partien gespielt, geübt, wiederholt und ununterbrochen gespielt hatte. Wirklich gut geübt.
„Das bin ich“, sagte er plötzlich erstaunt und ganz schlicht. Dann schaute er mich an und fuhr fort „und Du bist meine Große.“
Er weinte sehr verhalten und ich glaube, wir hofften beide in diesem Moment, dass die Gegenwärtigkeit nicht mehr aufhören möge. Ich konnte den Moment nicht einmal auskosten, da war er schon vorbei.
Es war wie am Sterbebett, wo du weißt, jetzt bleibst Du zurück und kannst nicht mehr mit und die Welten trennen sich und es gibt kein Durchkommen mehr.
Ich vermisse meinen Vater jetzt, wo er tot ist, nicht ansatzweise so sehr, wie als er weg war und so verschwand in einem undurchdringbarem Leben.
Das ist eine schlichte Wahrheit.



2 Kommentare:

  1. Obwohl ich den Schmerz nicht kenne, vergessen worden zu sein, spüre ich ihn förmlich beim Lesen deiner Geschichte! Und so kann ich sehr gut nachvollziehen, wie groß deine Erleichterung war und freue mich für dich und deine Schwester. Alzheimer - ein Begriff und so viele Schicksale dahinter! Vielen Dank, liebe Ute, dass du für uns ein wenig den Vorhang geöffnet hast....

    Lieben Gruß 😘

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