Sonntag, 22. September 2013

U-Bahn Stories Traumwandlerisch






U-Bahn Stories Traumwandeln

Es war einer jenen Tage, an denen ich mich traumwandlerisch bewege, von Anfang an. Ich bewege mich auf einem Space, den ich selber als durch die Welt träumen nenne. Das sind Tage ohne Kontrolle. Ich bin ausgeschlafen und voller Selbstvertrauen. Ich fühle mich gesund und erholt und ich denke wenig nach, weil es mir dann ohnehin leicht fällt. Intuitiv segel ich durch solche Tage.

Am Feierabend eines solchen Tages entdeckte ich auf dem Heimweg eine Kiste vor einem Hauseingang. ZU VERSCHENKEN…dieser Hinweis lud meine Neugier ein. Firlefanz, Nippes, siebziger Jahre, zwei Bücher. Bücher ziehen meine Aufmerksamkeit an. Ein Buch über Weihnachten aus dem Mosaik Verlag versprach allerhand Backwaren Plätzchen Basteln Dekoration…ein Dauerbrenner für Weihnachtsromantikerinnen, wie ich eine bin. Schöne Bilder, gute Fotos, ordentliche Rezepte…das Buch ließ ich mir schenken. Das andere war ein Roman von Graham Green, eine DDR Ausgabe…ich hatte noch nie eines von ihm gelesen…beim Blättern fiel ein selbstgestalteter Brief handgeschrieben heraus…das gab den Ausschlag für das Buch…ich liebe fremde Welten aus vergangenen Zeiten mit individuellen Beschreibungen…eingesteckt und ab zur U Bahn.

Meinen Sitzplatz nahm ich gegenüber einen alten Frau ein, deren Erscheinung mich an meine Großmutter erinnerte und die vollkommen abwesend aus dem Fenster träumte. Ihre weißen Haare wurden durch die altmodischen Silberklemmen zurückgehalten, es schimmerte in der Abendsonne silbern. Vielleicht war sie über neunzig Jahre alt, die Kleidung mutete schlicht und praktisch an. Unmodisch im wahrsten Sinne, fast unauffällig, hellblau und braun, feste Schuhe mit Schnürsenkeln, Strumpfhosen, die die ganze Haut widerspiegelten. Ein gütiges Gesicht, volle Lippen, hinter ihrer Brille entdeckte ich blassblaue Augen. Die Brillengläser waren dick, das Gestell hellblau Perlmutt. Ich mochte sie sofort, so sah meine Oma aus.

Als ich die Bücher aus meiner Tasche herauszog, fiel der Brief zwischen unseren Füßen zu Boden. Reflexhaft griffen wir beide nach dem fallenden Papier. Ich hob es auf. Sie stutzte. Wir hatten direkten Blickkontakt. Ich lächelte, sie schaute mir ins Gesicht, tastete es ab mit ihren stark kurzsichtigen Augen. Dann fiel ihr Blick auf den Brief.

Ich nahm ihn zum Anlass, mit ihr ins Gespräch zu kommen, erzählte ihr vom Fund und dass ich den Brief für das wahre Schmuckstück hielt. Ihr Blick und die Atmosphäre zwischen uns ließen mich plötzlich innehalten. Sie zeigte auf Buch und  Brief und fragte, in welcher Straße der Karton gestanden hatte. Nachdem ich dies beantwortete bestand für sie kein Zweifel mehr. Der Brief und das Buch, beides waren ehemals ein Geschenk von ihr an ihre Tochter. Sie bedankte sich darin für einige gemeinsam Tage über Weihnachten bei ihrem Kind. Es war das erste Weihnachten ohne ihren Ehemann und Vater der Tochter. Es war eine Schlidderpartie der Seele, so drückte sie sich aus. Wir sind gemeinsam durch dieses Jahresende gereist und wussten nicht, wohin diese Reise geht und wann das Schlimme aufhört. Genau darüber schrieb sie und dass sie so dankbar war für diese Zweisamkeit in den einsamen Zeit.

Ich hörte zu und wunderte mich über Tyche, die Zufallende Schicksalsgöttin, die sich hier zwischen unsere Leben fügte. Vor mir saß eine Ostberlinerin, eine der letzten ihrer Art, wie auch meine Oma eine war. Sie hatte drüben gelebt, meine Eltern hatten das Weite gesucht kurz vor dem Mauerbau. Einsam warne wir im Westen gewesen, erschrocken die im Osten, aber wenigstens zusammen als ganze Familie nur ohne uns. Ich sprach aus, was ich dachte. Ich erzählte ihr von meiner Großmutter, von dem Haus, in dem sie lebte, von der Straße und plötzlich ging ein Leuchten über ihre blauen Äugen. Ich wohne jetzt noch da und ich kannte ihre Großmutter und dann stand plötzlich das ganze Haus mit allen mir und ihr bekannten Mieterinnen zwischen uns und alle Geschichten bewegten sich und meine Großmutter wurde lebendig, nicht mehr als meine Oma sondern als Aktivistin für Seniorenbetreuung und Kohlenschieberin und Hauswartsfrau und überhaupt als anerkannte Frau Freundin Nachbarin, so wie ich sie nie kennenlernen konnte in Westberlin.

Offen blieb die Frage, warum die Tochter das Buch und den Brief in die Kiste gelegt hatte…wobei ihr der Brief wahrscheinlich durchgegangen ist, das Buch aber vielleicht einfach zu viel wurde in der Wohnung einer Frau, die selber weit über sechzig war.

Am Ende fragte sie mich, ob sie mir ihre Telefonnummer geben dürfte und ob wir uns mal wiedersehen könnten und dann schrieb sie in alter Sütterlinschrift alles auf einen kleinen Notizzettel, einen Einkaufszettel von der vergangenen Woche und ich gab ihr das Buch und den Brief und wir tauschten unsere Leben miteinander und ich war glücklich und träumte mich in ihr Gesicht und sie lächelte auf diese Weise, wie es nur wirklich alte Menschen können, still und ruhig und unaufgeregt.

Ich hatte an diesem Abend einen feinen traumwandlerischen Weg genommen und einen Teil meines Mädchenlebens wiedergewonnen.

Auch das kann in der U-Bahn passieren.


4 Kommentare:

  1. was für eine wunderbare Begegnung, es hat mich immer mehr berührt was auf sich hatte mit der Frau!
    Schön wie es endete!
    Schönen Sonnatgabend und ein noch schöneren letzte Woche im Septembermonat wünsche ich dir!
    Lieben Gruss Elke

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    1. Liebe Elke,
      auch Dir eine feine letzte Septemberwoche
      mit Kastanien und warmer Herbstsonne
      aus Berlin Ute

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  2. das ist ja wie ein wunder! wie schön!
    m.

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  3. Hallo unbekannterweise,
    ich war lange nicht in der Blogwelt, sodass ich nicht weiß, ob pn gehen, da ich es nicht fand, als Kommentar.

    Zwar besteht gewiss kein Bezug zu Ihrer/Deiner Großmutter und auch nicht mit der Dame aus Ostberlin,
    doch mich persönlich riss es gerade.
    Die Dame hat Ähnlichkeit mit meiner Mutter.
    Auf meinem Blog hab ich nur ein kleines Bild von ihr,
    sodass Fremden die Ähnlichkeit nicht so auffällt,
    da meine Mutter mehr der burschikose Typ war,
    kurze Haare, keine Handtasche,
    doch die Ähnlichkeit ist frappierend.

    Es gibt nicht so viele, die ihr ähnlich sehen,
    vor einem Jahr sah ich eine Frau die ähnlich sah,
    vom Gesicht, Statur, Kleidung und Art.
    Hier trifft zwar die Kleiderauswahl nicht zu,
    doch die Ähnlichkeit im Gesicht,
    und das nicht aufgrund der Brille,
    sondern das Profil...

    Meine Mutter stammte aus dem Sudetenland...

    Zu Lebzeiten sage ihre Freundin, sie hätte einmal eine Doppelgängerin gesehen, doch sowohl meiner Mutter als auch mir ist nie eine Frau begegnet, die ihr ähnlich sah.
    Bis auf die Begegnung letztes Jahr,
    und nun das Bild der Dame aus der U-Bahn in Ihrem/Deinen Blog...

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