Dienstag, 18. April 2023

Stille Woche Schweigend Liebesgeschichten erzählen



 


Die Karwoche mag ich sehr gerne.
Ich liebe ihre Themen und die Ruhe.
Verrat, Verbundenheit, Besinnung, Meditation, Fasten und Fastenbrechen,
Eierspeisen statt Fleisch, Auferstehung, uns und andere ans Kreuz nageln und wieder herunterholen, einander entdecken und wiederfinden.
Auferstehung aus den finsteren Schatten unserer Selbst. Da sein ganz.
 
In diesem Jahr hatte ich seit langem mal wieder das Bedürfnis, einen Tag lang im Schweigen zu verbringen. Sprechen bewusst, aber erst einmal die Qualität des Nicht Reden wollen. Ich wollte eine große Morgenrunde machen und die wuchs sich auf 8 Kilometer aus und ich bekam naturgemäß Lust auf einen Kaffee. In meinem alten Charlottenburg war schon vor längerem das Wiener Café verschwunden und da ein anderes Motto in dieser Zeit ist, immer auf etwas ganz Neues zu vertrauen und Fremdes einfach mal vorbehaltlos zu bejahen, suchte ich auf diese Weise nach einem Ort für mein schwarzes Getränk. Ich landete in der Kaiser Friedrich Straße und stand vor einem unscheinbaren Café. Klein, in der Sonne gelegen, nette Sessel und ich dachte JA, das ist es jetzt. Ich fand einen Platz auf einer Bank in der Sonne im Innenbereich. Türkisches Gebäck in der Auslage, Biomilch neben der opulenten Kaffeemaschine, ich nahm beides, einen doppelten Espresso mit viel Milchschaum und ein Pistaziensandgebäck.
Ich fühlte mich wohl, holte Heft und Stift raus und dachte so, das geht gut hier.
 
Ich muss hinzufügen, diese Straße war meine Kindheitsheimat. Das Karree, in dessen Radius ich mich auf der Straße beim Spielen bewegen durfte. Hier war ich Zuhause. Hier hatte es alle notwendigen und nicht notwendigen Geschäfte gegeben. Es gab noch keine Discounter. Schokolade wurde bei Sawade gekauft, Gemüse und Obst bei einem Einzelfachgeschäft, Milch im Bolle Laden, Kohlen und Kartoffeln beim Kohlenladen, Blumen bei Lange, Zeitung und Rauchwaren beim Trafikanten, und ein Geschäft lag neben dem anderen. Bei Sawade hingen draußen Kaugummiautomaten und einer für Storck Karamell Bonbons. Langes hatten für die Nacht einen Blumenautomaten. Eine Mark der Strauß. Das war viel Geld aber doch erschwinglich. Im Zigarettenautomaten gabs 5 Zigaretten für eine Mark. Außerdem gabs dort Lotto. Mein Vater spielte zeitlebens, alle unsere Geburtsdaten. Er hat nie richtig groß gewonnen, aber gut verdient, das wog es auf. Ich habe seine Lottospielerei übernommen. Bei mir wiegt es das Leben auf, ich habe auch schon mal 2500 € gewonnen, aber das ist eine andere Geschichte.
 
An all dies erinnerte ich mich in diesem Café sitzend. Dies Haus gab es in meiner Kindheit noch nicht, es hatte die Straße länger gemacht.
Aus meinem Augenwinkel beobachtete ich ein parkendes Auto. Eine Frau stieg aus und hob aus dem Kofferraum einen Rollator, aus dem hinteren Sitzbereich entließ sie einen kleinen Hund und die Beifahrerin stiegt sehr langsam aus und versuchte ohne Rollator zu gehen. Am Ende griff sie die Gehhilfe und die Fahrerin des Autos tanzte mit ihr den Tanz der Gewohnheit, Unsicherheit, Geduld, Ermunterung, Zuversicht…all dies gehörte zu ihrem Weg, der letztendlich hier ins Café führte.
Die Bewegung endete auf dem anderen Ende der Bank, auf der ich auch saß.
 
Sie war unendlich dünn, die Haare leicht strohig gelb und diffus frisiert. Eine Sonnenbrille verbarg die Empfindsamkeit gegen das Licht. Eine Lähmung zog sich der Länge nach durch den Körper. In der Kommunikation mit der Freundin eröffnete sich mir auch die Lähmung der Sprache, es gab kein Sprachvermögen mehr. Nach einer Weile, der Tee war serviert und die Freundin gegangen, die Sonnenbrille abgesetzt, gab es ein Nicken und wohlwollendes Gestikulieren zur Sonne zwischen uns. Sie saß genau richtig, im Schatten und ich mit Genuss im Sonnenlicht.  Ich fragte sie dann, ob sie einen Schlaganfall hatte. Drei zeigte sie mit der linken Hand an. Sie versuchte mir deutlich zu machen, dass sie sich vollkommen geteilt wusste und fühlte. Sprechen würde nie mehr gehen. Ein Alptraum, für sie ebenso wie für mich in der Vorstellung. Plötzlich wurde ich gewahr, dass sie mich ja verstand, also das Sinnhafte war noch da. Ich fragte sie ob sie schreiben könne. Sie wehrte umständlich mit der rechten Hand ab. Nein links, können sie das schreiben. Sie schaute mich angewidert an. Ich nahm mein Heft und begann mit der linken Hand meinen Namen zu schreiben, den Vornamen und dachte nur, o Göttin ist das langsam und krakelig und doch auch, das ist an einem Tag der Stille und Ruhe vielleicht genau das richtige. Ich schob ihr Heft und Stift hin und sie schrieb ihren Namen. Vom Vornamen den ersten Buchstaben und dann den Familiennamen. Es sah schön aus. Und dann erinnerte ich mich an meine Sammlung von Liebesgeschichten und ich fragte ganz mutig, ob ihre Freundin ihre Liebhaberin sei, und es gab ein großes leuchtendes Ja auf dem Papier und den Namen und eine Jahreszahl und dass sie verheiratet sein. Und dann hatten wir das Thema und schrieben zwei gute Stunden diese Geschichte auf. Ich hatte ihr geschrieben, dass ich eine Sammlung von Liebesanfängen hätte und ich Menschen so gerne darauf hin ausfrage. Links war plötzlich kein Problem mehr. Es war eine ruhige und stille und zugleich lebendige Begegnung. Und ich wusste plötzlich, dass dies mir mein Geschenk in dieser Zeit war und Ostern zukünftig auch diese Farbe trüge. Die Versehrtheit einer Frau.
So toll sah noch nie ein Heft am Ende eines Cafèbesuchs aus. Ich fühlte mich so dankbar und reich beschenkt.
Am Ende, als ich ging, begann sie noch einmal sehr wild zu gestikulieren. Ich holte das Heft wieder raus, doch sie beharrte auf der Gestenkommunikation und ich als ich mich darauf einließ, war es die einfache Frage, ob ich wieder hierherkäme. Meine Antwort war einfach: Ja.
Sie nahm jetzt einen Zettel der Bedienung entgegen und schrieb mir darauf, dass sie jeden Tag hier wäre, immer um dieselbe Zeit. Nach Ostern werden wir uns wiedersehen. Ich schenkte ihr meinen Bleistift und behielt mein Heft. Sie steckte ihn in ihre Hosentasche. Woher mein Heft wäre? Ich kaufe mir die Oktavhefte für die Manteltasche beim Edeka. Gut. Sie wusste Bescheid. Wir reichten uns zum Abschied die linken Hände.
 
Ostern sind für mich auch die ersten Märzenbecher, die Tulpen und die Narzissen, das sind Bilder aus meiner Kindheit.
Der Geruch ist eher ein kalter oder frische Duft von dunkler feuchter Erde.
Ostern ist schreibgewaltig und leise und aufgeregt bewegt. Ostern ist ab jetzt auch die Erinnerung an eine erzählte aufgeschriebene Liebesgeschichte, die vor 5 Jahren mit einem Schlaganfall begann. Das ist neu. Die Geschichte gibts ein anderes Mal.
An einem stillen Tag vielleicht.
 

Neu ist auch, keine Handynummer, kein whatsapp, ausschließlich Begegnung und Verabredung, Neu ist quasi Alt, wie früher.


 



2 Kommentare:

  1. Na, das ist ja wieder ein Ding! Ein Riesending - deine Geschichte. Du ziehst doch förmlich solche Begegnungen an. Magisch! Die Story macht wieder deinen Blognamen sowas von sinnvoll - toll :) Fast hätte ich das Atmen zwischendurch vergessen. Erzählen kannst du! Liebe Grüße und einen schönen Tag :)

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  2. Liebe Hanne, danke fürs Kompliment und Vorbeikommen und Kommentieren.Meine Erfahrung: jede will von sich erzählen, jede wünscht sich Interesse an ihrem Leben, Fragen sind die Eintrittskarte. Bis bald wieder Ute

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