U Bahn Stories
Mittags in der U2. Die Fahrtrichtung Kreuzberg Friedrichshain.
Die Mischung des Fahrpublikums ist Berline like. Kein Meltingpot wie New York,
wo alle Amerikaner sind und sein wollen. Hier sind nicht alle Berliner, die
Berliner sind zu wenige geworden, und wirklich Deutsche wollen auch nicht alle
sein.
Mir gegenüber sitzt eine Frau mit drei Söhnen.
Italiener. Touristen. Unvermittelt beginnen die beiden jüngeren Söhne an den Haltestangen zu turnen an. Das Gestänge biegt sich und die beiden Turner fühlen sich unheimlich toll und werden immer ungestümer.
Italiener. Touristen. Unvermittelt beginnen die beiden jüngeren Söhne an den Haltestangen zu turnen an. Das Gestänge biegt sich und die beiden Turner fühlen sich unheimlich toll und werden immer ungestümer.
Plötzlich schwingt sich eine deutsche Stimme kerzengrade durch
die Luft:
„Das sind nun wirklich keine Turnstangen sondern Haltegriffe!
Und hier sitzen noch mehr Menschen als nur Sie.“
Das Ausrufezeichen steht stock und steif und deutsch grade zu
preußisch im Raum. Eine Schulklasse vor vierzig Jahren hätte vielleicht grade
gesessen.
Da erst sehe ich ihn, den Preußen. Er scheint weit über 70 Jahre zu sein. Schlohweiße Haare. Vorher
habe ich ihn gar nicht bemerkt. Ohne Stimme unscheinbar im wahrsten Sinne des
Wortes. Wie ein alter Volksschullehrer in den frühen sechziger Jahren sieht er
aus. Ein beiger Sommeranzug aus Trevira, dazu gebrochene dunkelbraune
Altherrenledersandalen, gebrochenes Leder, sockenlos, ein weißes Sommerhemd mit
offenem Kragen. Am Revers des Jacket eine kleine Anstecknadel. Ich erkenne die
nicht. Ich frage mich, wie so oft, ob er eher Ostler oder Westler ist. In
beiden Systemen wurde Anstand und angepasste ordentliche Erziehung gefordert. Einiges
an ihm lässt mich schwanken zwischen meiner Abneigung und gleichzeitigem Respekt vor ihm. Was mich
für ihn einnimmt, er liest die Berliner Zeitung, auf seinem Schoß liegt die TAZ.
Nicht ganz sympathisch ist mir seine unverbindliche Strenge. Für ihn sprechen
seine wachen Augen, die immer wieder ohne Verbitterung oder Zorn zu den Jungen gleiten.
Er schaut eher interessiert und neugierig.
Die beiden Turner lassen sich leise über ihn aus. Die Mutter wirkt
unberührt tolerant, und insgesamt steckt die Familie den Zwischenfall locker
weg. So richtig verstanden haben sie sein Ansinnen nicht.
Ich beobachtete den Herren weiter aus den Augenwinkeln. Ich bleibe
an seinem Abzeichen hängen.
Endstation. Ich sitze, um in Ruhe aussteigen zu können.
Gleichzeitig stehen wir an der Tür. Ich frage ihn nach der Nadel. Er schaut
mich offen an und ein großes Lachen geht über sein Gesicht. Sein Lachen ist eines,
das mir den ganzen Tag schenkt.
60 Jahre Mitgliedschaft bei der IG Metall. Das ist die
Anstecknadel.
Er ist Berufsschullehrer, seit seiner Jugend als Metaller
unterwegs. Ein stolzer Gewerkschaftler der alten Schule.
Draußen vor dem U Bahneingang stoßen wir auf einen
Informationstand von Greenpeace. Er lässt sich ansprechen, in ein Gespräch
verwickeln. Von jungen Menschen. Ich beobachte ihn weiter.
Ich frage ihn, warum er die Jungen so harsch angeraunzt hat.
Einen Moment lang sinnt er nach.
Er redet von fehlender Rücksichtnahme, von verlorenem Respekt
zwischen allen Generationen, von seinem Wunsch nach gegenseitiger
Rücksichtnahme und von der großen Sehnsucht nach Aufmerksamkeit zwischen Allen.
Er überzeugt mich mit seiner ruhigen und absichtslosen Stimme.
Ich frage ihn nach Ost- oder Westsozialisation.
Westen, aber immer Sympathien für den Osten.
Das finde ich wieder sympathisch.
Wir stellen einander vor. Er ist für mich ein altes Stück
Vergangenheit, das grade vergeht. Ich möchte es noch einen Moment halten. Und verweile
einfach noch einen kurzen Moment neben ihm.
Wir gehen in verschieden Richtungen in die Welt.