Wundersame
Geschichte/ Der Brief
Es gibt
Wonderstories und es gibt Geschichten, denen wohnt irgendwie etwas Wunder inne,
aber doch eher wundersames. Dies ist eher so eine Geschichte…und es ist auch
eine tragische Geschichte…
Es ist so,
dass mich Kisten mit einem Hinweis ZU VERSCHENKEN, die auf der Straße oder in
Hauseingängen stehen, magisch anziehen. Geschenke sind ohnehin toll und wenn
ich mir dann sogar Geschenke einfach mal so aussuchen kann und wenn dann noch
die Spannung dazu kommt, WAS IST ÜBERHAUPT DRIN IM KARTON, dann gibt es bei mir
kein Halten mehr und ZACK bin ich dran.
So auch in
diesem Fall.
Ich erinnere
weder Ort noch Buch noch Zeitraum. Ich weiß nur, ich öffnete ein Buch, das mich
doch immerhin interessiert haben muss und heraus fiel ein Brief. Manchmal sind
es Karten oder inliegende Wünsche, die sich an Personen richten, denen dieses
Buch zugeeignet wird. Das hier war anders. Es war ein langer Brief und der
hatte mit dem Buch auf den ersten Blick nichts zu tun. Die Schrift war etwas
schwer zu entziffern, aber es gelang mir grob. Ohne weiter nachzudenken,
steckte ich den Brief in meine Handtasche.
Zuhause dann
setzte ich mich in die Küche und begann den Brief zu entziffern.
Der verzweifelte
Brief einer alten Frau an ihre Tochter.
Liebe Helga
Kommst Du
mich bald besuchen?
Ich habe so
Sehnsucht nach Dir.
Liebe Helga,
kannst Du mir etwas Geld schicken, ich habe keines. Kannst Du mir etwas geben, bitte,
bitte.
Es ist ein
Jammer, dass ich so arm bin.
Ein bisschen
genügt schon.
Kannst Du
mich mal besuchen? Ich besuche Dich auch, wenn es geht.
Es ist ein
Jammer.
Ich bin so
traurig. Ich muss Dir noch meine Adresse schreiben…
Und hier
wurde die Schrift undeutlich auf den ersten Blick.
Liebe Grüße
von Deiner Mutti!
Dieser Brief
hat mich damals ziemlich aufgewühlt und ich war so ergriffen von dieser Not und
dieser Angewiesenheit. Und davon, dass jemand diesen Brief einfach so mit
hinausgelegt hatte. Am nächsten Tag lief ich zu dem Haus, in dessen Eingang
diese Kiste stand, aber ich fand niemanden mit diesem Namen und dachte dann, so
ist es manchmal. Nimm den Brief und tue ihn irgendwohin, vielleicht machst Du
irgendwann mal was damit.
Es vergingen
einige Jahre.
In der
letzten Woche besuchte ich eine Ausstellung mit Bildern von Sarah Schumann.
Silvia Bovenschen, mit der sie zusammenlebte, hatte ein Buch über sie
geschrieben, Sarahs Gesetz, ich wollte das nun nach dem Betrachten der vielen
Collagen und Bilder unbedingt wieder lesen. Ich wusste, dass ich es hatte.
Und wo ich
nun schon dabei war, holte ich auch das Buch ÄLTER WERDEN von selbiger Autorin
aus dem Regal. Ich schlug es auf und das
stand der Name der Tochter. Plötzlich erinnerte ich den Namen. Und ich holte
den Brief raus aus meinen Unterlagen und da traf es mich gleich noch einmal:
Plötzlich konnte ich die Adresse der Mutter lesen:
Waldschluchtpfad
Krankenhaus
Hohengatow
Eine
Geriatrie, in der ich 13 Jahre lang als evangelische Seelsorgerin gearbeitet
hatte.
Eine Geriatrie,
in der wirklich arme Menschen aus Spandau, zumeist ehemalige Arbeiterinnen von
Siemens ein Leben lang gearbeitet hatten und ohne staatliche Unterstützung
nicht leben konnten.
Frauen, die
viel zu stolz waren, staatliche Mittel zu beantragen.
Ich arbeitet
ehrenamtlich für eine Sozialkomission, in der wir diese alten Menschen
berieten, mit ihnen Kohlegelder beantragten und Kleidergelder auch. Ich kenne
ihren Stolz und ihre Erleichterung, wenn sie merkten, wir gut es tat, etwas
mehr Geld zu bekommen. Menschen, deren Wohnungen blitzeblank geputzt waren,
deren Kühlschränke unter den Fenstern leer waren und die Kohlekisten auch. Nach
dem Besuch von uns änderte sich das. Plötzlich standen auf dem Tisch kleine
Schalen mit Mandarinen und die Kohleschränke blinkten schwarz vor Briketts. Und
die alten Menschen lachten manchmal etwas. So viel Armut habe ich in Berlin
damals öfter gesehen. Neukölln, Wedding und Spandau.
Ich kenne
diese Geschichten bis heute. Meine Lebensgefährtin kam aus Spandau und deren
Kindheit trug sich unter genau diesen Umständen zu.
Das stand
mir plötzlich alles wieder vor Augen.
Und ich wusste
plötzlich, dass der Brief im Buch ÄLTER WERDEN von Silvia Bovenschen gelegen hatte.
Der Bogen,
der sich damit schließt, ist diese kleine wundersame Geschichte.
Es ist ein
Jammer, dass die Armut noch immer bei alten Frauen liegt.
Diese Armut
ist ein Jammer.
Es war mutig
von dieser alten Frau, diesen Brief zu schreiben.
Ich möchte
hiermit meinen Respekt zeigen und mein Mitgefühl.
Wir wissen
alle nicht, wie diese Geschichte endete.
Wir wissen
nur, dass die Tochter den Brief erhalten und aufbewahrt hat.
Mehr wissen
wir nicht.