Obdachlos
Am Pfingstsonntag stand dieser Mensch wortlos auf dem Leipziger
Platz. Ungerührt verharrte er in dieser Position. Er wünschte keine Hilfe, kein
Geld, keine andere Kleidung, er wollte nur angesehen werden und erwiderte
meinen Blick freundlich, mit herzlichen, fast lächelnden Augen. Der Vollbart
ließ sein Gesicht erkennen. Die Augen berührten und nur dort sollte Berührung
stattfinden. Meine Fragen erwiderte er nur mit Nicken oder Kopfschütteln.
So standen wir einander gegenüber und blickten uns wortlos eine
ganze Weile an. Dann plötzlich stieg in mir ein altes Gedicht auf, von Paul
Fleming. Ohne Nachzudenke begann ich es herzusagen.
Sei dennoch unverzagt, gib dennoch unverloren,
weich keinem Glücke nicht, steh höher als der Neid,
vergnüg Dich an Dir und acht es für kein Leid,
hat sich gleich wider Dich Glück, Ort und Zeit verschworen.
Ich stockte, weil ich nicht gleich den Text erinnerte, der noch
folgte und den er nach meinem Innehalten gerührt weiter sprach:
Was Dich betrübt und labt, halt alles für erkoren,
nimm Dein Verhängnis an, lass alles unbereut,
Tu, was getan muß sein, und eh´man Dir´s gebeut.
Was Du noch hoffen kannst, das wird noch stets geboren.
Dann stockte auch er und nach kurzem Nachsinnen von uns beiden,
fuhren wir gemeinsam fort herzusagen:
Was klagt, was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke
Ist ihm ein jeder selbst.
Schau alle Sachen an:
Dies alles ist in Dir. Lass Deinen eitlen Wahn,
und eh´Du förder gehst, so geh´in Dich zurücke.
Wer sein selbst Meister ist und sich beherrschen kann,
dem ist die weite Welt und alles aufgetan.
Unsere Blicke umarmten sich. Eine Weile noch ließen wir den
Klang der Welt nachwirken, dann verneigten wir uns leicht und gewiss
voreinander. Ich durfte ihn von der Seite her fotografieren.
Sehr berührend, deine Geschichte, Ute!
AntwortenLöschenWunderbar!
AntwortenLöschenEine sehr berührende Begegnung, danke, dass du davon erzählt hast!
Herzliche Grüße
Regina