Wenn
die Leben sich endlich zeigen
Als
der Alterungsprozeß bei meinen Eltern einsetzte, fühlte ich mich zuerst
verloren, dann betrogen, dann wurde ich bockig und zickig und erst dann, als
alles in mir durchgelaufen und abgearbeitet war, begann die wirkliche Begegnung
mit dem Alter und es begann ebenso die Auseinandersetzung mit meinem eigenen
Alter. Erst zu diesem Zeitpunkt fühlte ich die
Aussöhnung.
Mein
Vater beschrieb seine Wahrnehmung zum Altwerden einmal so: dass ich bekloppt
werden könnte, mich nicht erinnern oder nur schwer konzentrieren würde, damit
habe ich gerechnet, aber nicht damit, dass mein Körper mich im Stich lassen
würde.
Meine
Mutter war die DEUTSCHE EICHE in unserer Familie. Ich kann diese Selbst- und
Fremdbeschreibung schon seit vielen Jahren nicht mehr hören. Wenn ich mir die
kranken Eichenwälder anschaue und ihren Verfall im Angesicht unserer
Naturverfehlungen, dann sehe ich auch die grenzenlose Überforderung meiner
Mutter, deren Körper schon lange nicht mehr stark und kerngesund agiert,
sondern sich erschöpft, müde und ruhelos irgendwie durch alle Tage schleppt.
Meine Munter leidet seit vielen Jahren unter Schwindelanfällen, die ihre
Lebensqualität erheblich einschränkt.
Als
die Beweglichkeit meiner Eltern schwand, da erinnerte ich mich all der
Wanderungen und Wochenendspaziergänge, der Märsche durch die Museen und
Stadtviertel, unser grenzenloses Durchlaufen des uns neueröffneten Ostberlins,
unsere Reisen, allem, was eben mit Beweglichkeit zu tun hat.
Ich
wollte es anfangs nicht wahrhaben, dass all dies unwiederbringlich vorbei und
auch nicht wiederholbar war, auch nicht umkehrbar. Ich konnte sie nicht ins
Auto setzen und mit ihnen die Reisen machen, denn sie wurden alt und müde und
sie verloren auch ihre Kräfte und wollten einfach zur Ruhe kommen.
Ich
erinnere mich gut der hilflosen Bemühungen meines Bruders, ihr Leben lebendiger
zu gestalten, sie wollten das nicht.
Und
dann begann auch meine Lebensgefährtin unheilbar krank zu werden und vor allem
ihre Beweglichkeit und Lebenskräfte schwanden.
Spätestens
jetzt war klar: Ich bin beweglich und darf es sein und ich darf dafür eigenen
Wege gehen und ich muß dies mit anderen Menschen oder alleine tun. Seither
tanze ich um mein Leben und gehe jeden Tag eine Stunde spazieren.
Und
ich akzeptierte, dass Rollstuhl und Rollator Einzug in unser aller gemeinsames
Leben Einzug hielten. Ich liebe es, meine Freundin flexibel durch die Stadt und
Parks und Natur zu schieben und sie bei mir zu haben und ich kann das Alleine
in Bewegung leben ebenso genießen.
Meine
Eltern gemeinsam nebeneinander mit ihren Rollatoren laufen zu sehen rührt mich
an. Sie tun alles für ihre Unabhängigkeit und haben leider nicht gelernt, sich
Hilfe zu holen und dies als verbindenden Reichtum in ihrem Leben zu spüren.
Aber da müssen sie eben durch, wir Kinder können dies nicht aufhalten. Ich
lerne grade, dies auszuhalten und den Raum dahinter irgendwie zu halten und
alle Grenzen zu wahren und zu retten, wo Rettung gefragt ist.
Meine
Mutter ist jetzt seit drei Wochen im Krankenhaus und mein Vater fragt sich
jeden Tag, ob er sie für immer verliert. Sie sagte vor kurzem zu ihm: “Manfred
es ist nicht ausgemacht, dass Du an meinem Grab stehst.“ Dieser Satz ermunterte
ihn etwas.
Meine
Mutter ist acht Jahre älter als er. Als er ihr auf ihre Nachfragen so ein
bisschen seinen Alltag beschrieb, während sie im Krankenhaus liegt, wurde
deutlich, dass er leicht mal etwas verschludert oder vergisst und er machte
auch kein Hehl daraus.
Sie
aber klatschte empört in die Hände und rief aus: „Mensch was sollen wir denn da
erst machen, wenn ich mal in dein Alter komme.“
Das
war dann sozusagen der Knüller der Woche und mein Bruder und ich lachten uns
schlapp und sie beide lachten auch.
Wir
wissen nicht, ob sie wieder Nachhause kommt…
Ihre
Seele weiß nicht mehr so recht wofür…
Die
Ehe alleine reicht nicht mehr aus…
Die
Kinder sind auch kein Grund…
Wir
Kinder erleben das Ende der Kraft und erkennen die Natürlichkeit darin, niemand
nimmt es mehr persönlich, auch mein Vater akzeptiert die Begrenztheit vom
Leben...
Vielleicht
sind wir alle grade an einem Wendepunkt…
Mein
Vater sagte kürzlich unter Tränen, und mir fiel auf, dass ich ihn noch nie
hatte weinen sehen:
„Ich
kann mir gar nicht vorstellen, an ihrem Grab zu stehen und andere wollen mir
ihr Beileid aussprechen. Das halte ich doch gar nicht aus. Da will ich alleine
sein.“
Wenn
ich ehrlich bin, kann ich ihn sehr gut verstehen und das sagte ich ihm aus. Wir
müssen alle nicht tun, was wir nicht wollen.
Und
deshalb hatte ich vor kurzem diesen noch angehängten Text geschrieben:
Wenn Du stirbst…
Ich drehe Dir eine Honigkerze…
Ich suche Deine Fotos…
Ich finde Fotos mit Dir, Vater und mir…
Ich finde Fotos, auf denen Du mich anlächelst…
Ich
erinnere mich an meine Liebe zu Dir…
Ich
spüre etwas von der alten Liebe, von der Liebe, die alle Kinder immer in sich tragen, auch wenn es schlimm
wird im Leben…
Ich
sehe Dein junges lachendes Gesicht und erinnere mich nicht daran, Dich in den
letzten Monaten so lachen gesehen zu haben…
Welche
Träume hattest Du im Leben?
Welcher
Mut trieb Dich an?
Woran
hast Du festgehalten?
Woran
hältst Du jetzt noch fest?
In
welchen Tiefen sitzt Deine Liebe?
Ich
entzünde die Honigkerze…
Ich
denke an Dich…
Ich
weiß nicht, wie ich mich danach fühlen werde…wenn es vorbei ist…
Jetzt
ziehen die Gewitter auf…grelle Blitze…im Herbst eher ungewöhnlich…
Dass
Du stirbst, wie Du gelebt hast, immer kämpfen, immer Kontrolle, kein Vertrauen,
keine Ruhe, kein Frieden…
Ich
schaue in die Flamme und suche meinen Frieden…
Unseren
Frieden erinnere ich…unsere langen Spaziergänge…unsere Liebe zur Kunst, Lesen,
Bücher…
Ich
schaue ins Licht der Kerze…
Ich
schicke Dir Frieden, meinen Frieden schenke ich Dir…
Ich
wünsche Dir Ruhe…
Ich
wünsche Dir Schmerz frei…
Ich
wünsche Dir Freiheit…mir auch…
Uns?
Uns auch…
Die
Honigkerze brennt weiter…im Licht ist Freiheit…
Vielleicht
werfen wir deine Asche in den Wind und spüren auch da die Freiheit für Dich und
uns…