U-Bahn
Stories Traumwandeln
Es
war einer jenen Tage, an denen ich mich traumwandlerisch bewege, von Anfang an.
Ich bewege mich auf einem Space, den ich selber als durch die Welt träumen
nenne. Das sind Tage ohne Kontrolle. Ich bin ausgeschlafen und voller
Selbstvertrauen. Ich fühle mich gesund und erholt und ich denke wenig nach,
weil es mir dann ohnehin leicht fällt. Intuitiv segel ich durch solche Tage.
Am
Feierabend eines solchen Tages entdeckte ich auf dem Heimweg eine Kiste vor einem
Hauseingang. ZU VERSCHENKEN…dieser Hinweis lud meine Neugier ein. Firlefanz,
Nippes, siebziger Jahre, zwei Bücher. Bücher ziehen meine Aufmerksamkeit an.
Ein Buch über Weihnachten aus dem Mosaik Verlag versprach allerhand Backwaren
Plätzchen Basteln Dekoration…ein Dauerbrenner für Weihnachtsromantikerinnen,
wie ich eine bin. Schöne Bilder, gute Fotos, ordentliche Rezepte…das Buch ließ
ich mir schenken. Das andere war ein Roman von Graham Green, eine DDR
Ausgabe…ich hatte noch nie eines von ihm gelesen…beim Blättern fiel ein
selbstgestalteter Brief handgeschrieben heraus…das gab den Ausschlag für das
Buch…ich liebe fremde Welten aus vergangenen Zeiten mit individuellen
Beschreibungen…eingesteckt und ab zur U Bahn.
Meinen
Sitzplatz nahm ich gegenüber einen alten Frau ein, deren Erscheinung mich an
meine Großmutter erinnerte und die vollkommen abwesend aus dem Fenster träumte.
Ihre weißen Haare wurden durch die altmodischen Silberklemmen zurückgehalten,
es schimmerte in der Abendsonne silbern. Vielleicht war sie über neunzig Jahre
alt, die Kleidung mutete schlicht und praktisch an. Unmodisch im wahrsten
Sinne, fast unauffällig, hellblau und braun, feste Schuhe mit Schnürsenkeln,
Strumpfhosen, die die ganze Haut widerspiegelten. Ein gütiges Gesicht, volle
Lippen, hinter ihrer Brille entdeckte ich blassblaue Augen. Die Brillengläser
waren dick, das Gestell hellblau Perlmutt. Ich mochte sie sofort, so sah meine
Oma aus.
Als
ich die Bücher aus meiner Tasche herauszog, fiel der Brief zwischen unseren
Füßen zu Boden. Reflexhaft griffen wir beide nach dem fallenden Papier. Ich hob
es auf. Sie stutzte. Wir hatten direkten Blickkontakt. Ich lächelte, sie
schaute mir ins Gesicht, tastete es ab mit ihren stark kurzsichtigen Augen.
Dann fiel ihr Blick auf den Brief.
Ich
nahm ihn zum Anlass, mit ihr ins Gespräch zu kommen, erzählte ihr vom Fund und
dass ich den Brief für das wahre Schmuckstück hielt. Ihr Blick und die
Atmosphäre zwischen uns ließen mich plötzlich innehalten. Sie zeigte auf Buch
und Brief und fragte, in welcher Straße
der Karton gestanden hatte. Nachdem ich dies beantwortete bestand für sie kein
Zweifel mehr. Der Brief und das Buch, beides waren ehemals ein Geschenk von ihr
an ihre Tochter. Sie bedankte sich darin für einige gemeinsam Tage über
Weihnachten bei ihrem Kind. Es war das erste Weihnachten ohne ihren Ehemann und
Vater der Tochter. Es war eine Schlidderpartie der Seele, so drückte sie sich
aus. Wir sind gemeinsam durch dieses Jahresende gereist und wussten nicht,
wohin diese Reise geht und wann das Schlimme aufhört. Genau darüber schrieb sie
und dass sie so dankbar war für diese Zweisamkeit in den einsamen Zeit.
Ich
hörte zu und wunderte mich über Tyche, die Zufallende Schicksalsgöttin, die
sich hier zwischen unsere Leben fügte. Vor mir saß eine Ostberlinerin, eine der
letzten ihrer Art, wie auch meine Oma eine war. Sie hatte drüben gelebt, meine
Eltern hatten das Weite gesucht kurz vor dem Mauerbau. Einsam warne wir im
Westen gewesen, erschrocken die im Osten, aber wenigstens zusammen als ganze
Familie nur ohne uns. Ich sprach aus, was ich dachte. Ich erzählte ihr von
meiner Großmutter, von dem Haus, in dem sie lebte, von der Straße und plötzlich
ging ein Leuchten über ihre blauen Äugen. Ich wohne jetzt noch da und ich
kannte ihre Großmutter und dann stand plötzlich das ganze Haus mit allen mir
und ihr bekannten Mieterinnen zwischen uns und alle Geschichten bewegten sich
und meine Großmutter wurde lebendig, nicht mehr als meine Oma sondern als
Aktivistin für Seniorenbetreuung und Kohlenschieberin und Hauswartsfrau und
überhaupt als anerkannte Frau Freundin Nachbarin, so wie ich sie nie
kennenlernen konnte in Westberlin.
Offen
blieb die Frage, warum die Tochter das Buch und den Brief in die Kiste gelegt
hatte…wobei ihr der Brief wahrscheinlich durchgegangen ist, das Buch aber
vielleicht einfach zu viel wurde in der Wohnung einer Frau, die selber weit
über sechzig war.
Am
Ende fragte sie mich, ob sie mir ihre Telefonnummer geben dürfte und ob wir uns
mal wiedersehen könnten und dann schrieb sie in alter Sütterlinschrift alles
auf einen kleinen Notizzettel, einen Einkaufszettel von der vergangenen Woche
und ich gab ihr das Buch und den Brief und wir tauschten unsere Leben
miteinander und ich war glücklich und träumte mich in ihr Gesicht und sie
lächelte auf diese Weise, wie es nur wirklich alte Menschen können, still und
ruhig und unaufgeregt.
Ich
hatte an diesem Abend einen feinen traumwandlerischen Weg genommen und einen
Teil meines Mädchenlebens wiedergewonnen.
Auch
das kann in der U-Bahn passieren.